Bundesweit verändern sich die Schulstrukturen in der Sekundarstufe I, darüber hinaus aber auch die Schulsysteme insgesamt. Während die meisten Bundesländer – wie im Text unten gezeigt wird – ein Zwei-Säulen-Modell bevorzugen (neben dem Gymnasium noch eine zweite Schulform), hat NRW in seinem „Schulfrieden“ die Zahl der Schulformen in der Sekundarstufe I der allgemeinbildenden Schulen erhöht – und damit den Schulträgern die Wahl überlassen, welche Schulorganisation sie für ihren Bereich, ihre Stadt, ihr Dorf bevorzugen. Nach den entsprechenden Änderungen des Schulgesetzes zeigt sich allerdings, dass faktisch auch hier eine Bevorzugung von zwei Säulen zu erkennen ist: Neben dem Gymnasium etablieren sich als zweite Säule die integrativen Schulformen, entweder mit gymnasialer Oberstufe als Gesamtschule oder als Sekundarschule, die mit der 10. Klasse endet, dafür aber zur Kooperation mit einer externen gymnasialen Oberstufe verpflichtet ist. Ein Blick in Geschers Nachbarschaft bestätigt das: Eine Gesamtschule wird in Rhede, Borken und Bocholt geplant, eine Sekundarschule in Südlohn, Raesfeld, Heiden und Velen – um nur einige wenige Beisiele zu nennen.
Der folgende Text ist in der Loseblattsammlung von Dr. Joachim Schulze-Bergmann/Dr. Hermann Vortmann (Hrsg.) „Praxis der Ganztagsbetreuung an Schulen“ (ISBN 978-3-89827-753-2) erschienen. Ich habe ihn im Juni 2011 geschrieben, so dass der Stand von vor einem Jahr dargestellt ist. Die Angaben für NRW sind jedoch aktualisiert.
Schulstrukturen der Sekundarstufe I im Wandel
Die jahrzehntelang verhärteten Fronten in der Diskussion um Schulstrukturen der Sekundarstufe I brechen endgültig auf. Während die Diskussion um die Grundschule nur wenige Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung 1919 für lange Zeit ein Ende fand, ist der Streit um die „richtige“ Schulform in der Sekundarstufe I nie wirklich entschieden worden. Die quälenden Auseinandersetzungen in den westlichen Bundesländern um die Gesamtschule seit den siebziger Jahren, der Streit um längeres gemeinsames Lernen (bis hin zum Volksbegehren) am Beispiel der „Kooperativen Schule“ in Nordrhein-Westfalen 1978, zuletzt auch noch um die Klassen 5 und 6 im Rahmen der Primarschuldiskussion in Hamburg – alle Konflikte wurden entlang parteipolitischer Grenzen geführt, während die Schulpädagogen an den Hochschulen die Bedeutung der Schulform für guten Unterricht eher als begrenzt einstuften.
1. Schulstrukturdiskussion stellvertretend für Auseinandersetzungen um das jeweilige Gesellschaftsbild
2. Die Basis für schulorganisatorische Entscheidungen verändert sich.
3. Ein buntes Bild
Die neuen Strukturen sind in der Regel integrativer als die bisherigen; von der Dreigliedrigkeit (bzw. Viergliedrigkeit, wenn man die Gesamtschule mitzählt, die es in etlichen Bundesländern gibt) geht der Weg zur Zweigliedrigkeit. Das Gymnasium als Schulform wird auf absehbare Zeit Bestand haben. Erst recht nach dem Ausgang des Bürgerentscheids im Sommer 2010 in Hamburg wird es keine relevante politische Kraft versuchen, das Gymnasium grundsätzlich in Frage zu stellen. In mehreren Bundesländern allerdings hat man – wie in Hamburg – die Zweigliedrigkeit eingeführt, die an die Stelle von Haupt-, Real- und Gesamtschule getreten ist und eine Abituroption im Sinne des G 9 anbietet.
Das Angebot von Sonder- und Förderschulen geht zurück, die bisherigen Integrationsansätze weiten sich aus zur Inklusion im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention. Eine schulorganisatorische Ausgliederung von Hauptschülern bei gleichzeitiger Integration bzw. Inklusion behinderter Kinder und Jugendlicher in das Regelschulsystem wäre vor diesem Hintergrund nicht zu vertreten.
Die Gesamtschule ist seit langem auf Ganztagsbetrieb ausgerichtet. Auch die Gemeinschaftsschule ist in der Regel als Ganztagsschule geplant. Eine Sondersituation gibt es in Nordrhein-Westfalen: Neu zu errichtende Gesamtschulen werden zurzeit nur im Halbtagsmodus genehmigt, während die Gemeinschaftsschule als Ganztagsschule an den Start geht. Gleichzeitig werden auch die übrigen Schulformen der Sekundarstufe I – Realschulen und Gymnasien – bei der Einführung von Ganztagsformen unterstützt. Im Kontext der Ganztagsschule tritt der gesellschaftspolitische Aspekt besonders stark hervor: Es geht um Kompensation der häufig berufsbedingten Abwesenheit beider Elternteile, aber auch um Ausgleich von Nachteilen, die aus der sozialen Herkunft entstehen können.
Die Gemeinden als Schulträger erhalten mehr Freiräume als früher zur Gestaltung der örtlichen Schulsituation. Dies ist bei rückläufigen Schülerzahlen besonders im ländlichen Bereich mit seinen geringeren Möglichkeiten der Umorganisation im Nahbereich erforderlich.
Erstaunlich ist, dass in dem Integrationsprozess die Gesamtschule in etlichen Ländern als eigenständige Schulform nicht mehr existiert bzw. existieren wird. Andererseits haben die neu eingeführten Formen (Gemeinschaftsschule) viele Charakteristika der Gesamtschule bis hin zur Abituroption aufgenommen.
4. Übersicht
Bundesland
|
Schulformen
|
Baden-Württemberg
|
· Hauptschule
· Werkrealschule (i. e. Hauptschulen mit einem 10. Schuljahr; zukünftig sollen alle Hauptschulen mit mindestens zwei Zügen „Werkrealschule“ heißen)
· Realschule
· Gymnasium
|
Bayern
|
· Hauptschule (soll zukünftig „Mittelschule“ heißen, außerdem verstärkte Berufsorientierung und Ganztagsbetrieb aufweisen)[7]
· Realschule
· Gymnasium
|
Berlin
|
· Sekundarschule (ersetzt Haupt-, Real- und Gesamtschule) mit Abituroption nach G 8 oder G 9
· Gymnasium[8]
|
Brandenburg
|
· Oberschule (ersetzt Gesamt- und Realschule) endet mit der 10. Klasse
· Gymnasium[9]
|
Bremen
|
· Oberschule (ersetzt Haupt-, Real- und Gesamtschule) mit Abituroption nach G 8 oder G 9 (wie in Berlin)
· Gymnasium
|
Hamburg
|
· Stadtteilschule (ersetzt Haupt-, Real- und Gesamtschulen) mit Abituroption nach G 9
· Gymnasium
|
Hessen
|
· Mittelstufenschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· (Integrierte) Gesamtschule
· Gymnasium
|
Mecklenburg-Vorpommern
|
· Regionalschule (ersetzt Haupt- und Realschule) mit äußerer Fachleistungsdifferenzierung
· (Integrierte) Gesamtschule
· Gymnasium
|
Niedersachsen
|
· Oberschule (geplant – ersetzt Haupt-, Real- und Kooperative Gesamtschule)
· Integrierte Gesamtschule
· Gymnasium
|
Nordrhein-Westfalen
|
· Hauptschule
· Realschule
· (Integrierte) Gesamtschule
· Gymnasium
· Sekundarschule
|
Rheinland-Pfalz
|
· Realschule plus (ersetzt die bisherige Realschule und die Hauptschule) mit Option zur Fachhochschulreife
· (Integrierte) Gesamtschule
· Gymnasium
|
Saarland
|
· Erweiterte Realschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· (Integrierte) Gesamtschule
· Gymnasium
· Gemeinschaftsschule (geplant) als Zusammenfassung von Erweiterter Realschule und Gesamtschule mit Abituroption als G 9
|
Sachsen
|
· Mittelschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· Gymnasium
|
Sachsen-Anhalt
|
· Sekundarschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· Gymnasium
|
Schleswig-Holstein
|
· Regionalschule (ersetzt Haupt- und Realschule, Differenzierung in schulformspezifische Bildungsgänge ab Klasse 7)
· Gymnasium
· Gemeinschaftsschule mit Gymnasialstandard, schulformspezifische Bildungsgänge möglich
|
Thüringen
|
· Regelschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· Gymnasium
· Gemeinschaftsschule mit integriertem Unterricht mindestens bis Klasse 8; Abituroption (eigene Oberstufe oder Kooperation mit einem Gymnasium)
|