Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir.
„Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ – so wird oft argumentiert, wenn man die Schule den Schülern schmackhaft machen will. Dass Seneca im alten Rom genau das Gegenteil behauptet hat, geht dabei oft unter: „Non vitae sed scholae discimus. – Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“ Er kritisierte damit früh die Relevanz der schulischen Bildung für das alltägliche Leben.
Die Diskussion hat sich in den letzten Wochen auch in Deutschland abgespielt. „Als sich die 17-jährige Schülern Naina aus Köln vor einigen Tagen auf Twitter beschwerte, dass sie in der Schule Sprachen und Gedichte lerne, aber keine Ahnung von Steuern und Versicherungen habe, bekam sie unerwartet viel Zuspruch. Ihr Twitter-Beitrag wurde mehr als 25.000 Mal favorisiert, mittlerweile hat sie mehr als 14.000 Follower.“Wir sind also wieder einmal in einer Schul-Schelte, vielleicht ein Anlass, zu fragen, was denn Schule soll; Wie lautet ihr gesellschaftlicher Auftrag?
Vermittlung von Bildung
Klar, Schule soll Bildung vermitteln, darauf kann man sich schnell verständigen. Was aber ist Bildung? Die Antwort lautet je nach Kultur und damit auch je nach Zeitalter höchst unterschiedlich. Als abstrakte und heutige Zusammenfassung kann man Volker Ladenthins Begriff zitieren: „Bildung ist eine Art des Umgangs mit der Welt. Es ist die Fähigkeit, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln.“
Allgemeinbildung und berufliche Bildung
„Peter, 17, aus Daun: ‚Die Schule muss mich nicht auf eine Steuererklärung vorbereiten‘
Es ist klar, dass die wenigsten von uns Schülern später Gedichte auf Französisch analysieren werden. Aber ich finde nicht, dass mich Schule darauf vorbereiten muss, wie ich eine Steuererklärung anfertige oder eine Versicherungspolice abschließe. Das Reflektieren einer Sprache sensibilisiert den Geist für Feinheiten, und auch das strukturierte Arbeiten ist eine wichtige Methodik – und über Steuererklärungen wird mein Vater mich zu gegebener Zeit aufklären.“
Dieses Zitat unterscheidet zwischen den Bildungsinhalten, die dem kulturellen, musischen und literarischen Bereich zuzuordnen sind, und solchen, die für die alltägliche Lebenspraxis Relevanz haben. Wenn man noch weiter geht, dann trifft man auf die Unterscheidung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung, die sich auch im Schulsystem widerspiegelt: Es gibt die allgemeinbildenden Schulen (Grundschule, Gesamtschule, Gymnasium usw.) und die berufsbildenden Schulen (Berufskollegs) im Rahmen der dualen Berufs(-aus-)bildung.
Als ich in den achtziger Jahren für die damalige Don-Bosco-Schule, die Gemeinschaftshauptschule der Stadt Gescher, die Ausstattung mit Rechnern für einen Computerraum beantragte, überzeugte ich den Schulausschuss nicht mit einem Plädoyer für Allgemeinbildung, sondern mit dem Verweis auf den Einzug des Computers in die Arbeits- und Wirtschaftswelt. Natürlich war das nicht ganz seriös, aber wirksam. Der Auftrag der allgemeinbildenden Schule ist es eben nicht, den Schülern in Klasse acht zu zeigen, wie eine Buchhaltungssoftware zu bedienen ist. Wenn die Schüler im Berufsleben ankommen, gibt es längst neue Versionen oder sogar Programme. Zur Allgemeinbildung tragen aber die Fragen bei, deren Antworten das „eigenverantwortliche“ Denken und Handeln betreffen: Was bedeutet die Digitalisierung für den Umgang mit persönlichen Daten? Welchen gesellschaftlichen Nutzen kann man daraus ziehen, welche Gefahren drohen? Was bedeutet sie für die Arbeitsplätze der Menschen, wenn in den Fabriken zunehmend Roboter eingesetzt werden? Wenn zunehmend Daten in sogenannten „Clouds“ gespeichert werden: Was heißt das für meinen Umgang damit? Auch die Diskussion beispielsweise über eine Vorratsdatenspeicherung gehört hierher – und vieles mehr.
Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung
Einen Aspekt dürfen wir nicht vernachlässigen: Die Welt ändert sich in schnellem Tempo, so dass wir der Frage, die Wolfgang Klafki in die didaktische und schulpädagogische Diskussion explizit eingebracht hat, beantworten müssen: Worin liegt die Zukunftsbedeutung dessen, was wir den Schülern vermitteln?
Hierzu zwei Beispiele:
- Als Student hatte ich in der Überwasserschule in Münster den Kindern einer dritten Klasse die schriftliche Subtraktion beizubringen. Ich leitete die Stunde mit einer kleinen Sequenz aus dem Alltag ein, wie er 1965 durchaus realistisch war: Eine Verkäuferin im Lebensmittelgeschäft verkauft einer Kundin Waren für 7,48 DM. Diese zahlt mit einem 10-DM-Schein. Wieviel bekommt sie heraus?
- Im Oktober 1969 wurde ich als junger Lehrer unmittelbar nach dem Zweiten Staatsexamen an die neue Gemeinschaftshauptschule in Gescher versetzt. Rektor Werner Marx setzte mich in den bestehenden Stundenplan, so gut es ging, ein. Unter anderem übernahm ich eine Arbeitsgemeinschaft in Mathematik mit dem Auftrag, einigen Schülern der neunten Klassen das Rechnen mit dem Rechenschieber beizubringen.
In der Grundschule saßen Kinder im Alter von etwa acht Jahren. Als sie im Berufsleben ankamen, gab es nur noch wenige Lebensmittelgeschäfte alter Art, zunehmend Supermärkte mit Kassen, an denen niemand mehr auf einem Zettel schriftlich subtrahierte, wenn auch die Automatisierung noch – im Vergleich zu heute – in den Kinderschuhen steckte. Über den Bildungsgehalt der schriftlichen Subtraktion musste man damals schon und erst recht heute mit der Frage nachdenken: Welchen Sinn hat dieses Thema für überdauernde Kompetenzen im Sinne eigenverantwortlichen Denkens und Handelns? Lernen wir etwas Wesentliches über unser dekadisches Zahlensystem? Wenn ja, was ist das?
Und der Rechenstab: Sah man auch seinerzeit noch Ingenieure, Architekten, Techniker und Versicherungsvertreter mit einem solchen Gerät hantieren, nach ganz wenigen Jahren hatte der Taschenrechner dieses Gerät verdrängt. Und trotzdem bleibt natürlich die Frage spannend und unter Umständen auch als Bildungsinhalt berechtigt: Wieso konnte man mit dem Rechenstab multiplizieren, dividieren und Wurzeln ziehen, obwohl hier doch nur Strecken addiert und subtrahiert wurden? Die Erfahrung, dass die Einweisung in die Handhabung des Rechenschiebers 1969 sinnvoll schien, 1975 aber als vertane Zeit gewertet werden musste, hat mich als Lehrer, Lehrerausbilder und in meinen weiteren Funktionen geprägt: Die Lebenszeit der Kinder, die wir mit dem Schulpflichtgesetz in die Schule zwingen, ist so kostbar, dass wir jede Minute verantworten können müssen, die sie dort zubringen. Was sie lernen, muss etwas Nachhaltiges bewirken.
Die Schule erzieht und bildet nicht allein
Wie sagt der siebzehnjährige Peter aus Daun in Spiegel Online? „… und über Steuererklärungen wird mein Vater mich zu gegebener Zeit aufklären.“ In der Tat. „Schule“ als Wort kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet „Muße“. Wir ermöglichen Kindern und Jugendlichen, außerhalb der komplexen Realität in einem Schonraum Schule Wirklichkeit zu erfahren und wahrzunehmen, in Ruhe darüber nachzudenken und auch Bewertungen vorzunehmen. Je nach Alter und Schulstufe oder –typ gibt es hier verschiedene Aufträge, aber jeder legitimiert sich durch die Antwort auf die Frage: Was trägt dieser „Stoff“, dieses Lernziel, dieser Bildungsinhalt zum eigenverantwortlichen Denken und Handeln bei?
Die Eltern, die Altersgenossen – die sogenannte Peer Group, Arbeitskollegen, Fort- und Weiterbildungseinrichtungen, sie alle tragen zur Bildung und zum lebenslangen Lernen ihren Teil bei. Bürdet nicht alles der Schule auf. Sie kann nicht die Antwort auf alle gesellschaftlichen Problemthemen sein. Man hänge nur an jedes den Begriff „-erziehung“ an und erhalte einen unüberschaubaren Forderungskatalog an die Schule: Gesundheitserziehung, Sexualerziehung, Verkehrserziehung und viele andere mehr.
Also Naina (und alle, die ihre Meinung teilen): Überfordert die Schule nicht. Gebt ihr die Muße, die sie für ihre Kernaufgabe braucht. – Alles andere kommt zur rechten Zeit.