Flüchtlingskinder in Geschers Schulen

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Die Flüchtlinge sind junge Männer, die ohne Frauen und Kinder kommen, so dass eine Vervielfachung dieses Personenkreises durch Familiennachzug droht? Weit gefehlt: Ich erlebe zwar nicht täglich, aber wöchentlich im Rahmen meiner Arbeit für die Flüchtlingshilfe in Gescher, dass ganze Familien mit Kindern aller Altersklassen angekommen sind. Und viele dieser Kinder sind sofort schulpflichtig.

Nordrhein-Westfalen war in der Regelung dieser Schulpflicht Vorreiter. Im Jahr 2005 führte es als erstes Bundesland die Schulpflicht für Kinder von Asylbewerbern und für alleinstehende Kinder und Jugendliche ein, die einen Asylantrag gestellt haben. Noch 2007 kritisierte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung in seinem Bericht zu Deutschland vor allem, dass mehrere Bundesländer minderjährigen Flüchtlingen einen unzureichenden Zugang zur Schulbildung gewährten. Auch heute noch gibt es in der Bundesrepublik Länder, die insbesondere illegal in Deutschland lebenden Kindern und Jugendlichen den Zugang zu schulischer Bildung verwehren.
Hier ein Auszug aus dem Schulgesetz von NRW:
Vierter Teil


Schulpflicht

§ 34
Grundsätze

(1) Schulpflichtig ist, wer in Nordrhein-Westfalen seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder seine Ausbildungs- oder Arbeitsstätte hat.
(2) Die Schulpflicht umfasst in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I die Pflicht zum Besuch einer Vollzeitschule (Vollzeitschulpflicht) und in der Sekundarstufe II die Pflicht zum Besuch der Berufsschule oder eines anderen Bildungsgangs des Berufskollegs oder einer anderen Schule der Sekundarstufe II. Sie wird durch den Besuch einer öffentlichen Schule oder einer Ersatzschule erfüllt.

(6) Die Schulpflicht besteht für Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern und alleinstehende Kinder und Jugendliche, die einen Asylantrag gestellt haben, sobald sie einer Gemeinde zugewiesen sind und solange ihr Aufenthalt gestattet ist. Für ausreisepflichtige ausländische Kinder und Jugendliche besteht die Schulpflicht bis zur Erfüllung ihrer Ausreisepflicht[1].Im Übrigen unterliegen Kinder von Ausländerinnen und Ausländern der Schulpflicht, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen.

Wie funktioniert die Erfüllung der Schulpflicht in Gescher?

Zunächst etwas Allgemeines: Die Zuständigkeit für die Beschulung von Kindern mit einer Zuwanderungsgeschichte liegt bei den Schulämtern für die Kreise und kreisfreien Städte.
Hier ein kurzer Auszug aus der Verordnung über besondere Zuständigkeiten in der Schulaufsicht (Zuständigkeitsverordnung Schulaufsicht – ZustVOSchAuf) vom 14. November 2010:
§ 1
Besondere Zuständigkeiten der unteren Schulaufsichtsbehörden

Den Schulämtern werden für alle Schulformen und Schulstufen die nachstehend aufgeführten weiteren allgemeinen Angelegenheiten zugewiesen:
1. Information, Beratung und Koordination der Schulen in allgemeinen schulfachlichen Angelegenheiten
a) der Beschulung von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte,
b) …

Das heißt für Gescher, dass das Schulamt für den Kreis Borken die Beschulung organisiert und beaufsichtigt. Es hat Beratungsstellen im Kreisgebiet eingerichtet und ihnen bestimmte Aufgaben übertragen, etwa die Feststellung, wie weit das Kind bereits die deutsche Sprache kann; daraus ergibt sich die Zuweisung zu einer bestimmten Schule. Die für Gescher zuständigen Beratungsstellen sind die Hilgenbergschule in Stadtlohn (für die Primarstufe – Klasse 1 – 4) und die Losbergschule in Stadtlohn für die Sekundarstufen I (Klassen 5 – 10) und II (Klassen 11 – 13).

Ein Beispiel für den Ablauf

Das Schulverwaltungsamt der Stadt Gescher schickt mir eine E-Mail:
„Guten Morgen, Herr Vortmann,
mir sind noch drei Kinder bzw. Jugendliche bekannt, die zur Sprachstandserhebung müssen.
Es handelt sich um:
N, Mohammad, m, geb. 07.11.1997, Don-Bosco-Turnhalle,
N, Mayd, m, geb. 19.12.2003, Venneweg 41, und
N, Zeynab, w, geb. 05.10.2008, ebenfalls Venneweg 41.
Alle drei stammen aus Syrien.
Mit freundlichem Gruß
N N
Glockenstadt Gescher
Fachteam III/Schulträgerangelegenheiten“
Es handelt sich also um ein Mädchen für die Primarstufe, einen Jungen für die Sekundarstufe I und einen Jugendlichen für die Sekundarstufe II. Also vereinbare ich einen Termin mit der Losbergschule und einen mit der Hilgenbergschule in Stadtlohn.
Dann führt mich mein erster Weg zur schon seit längerer Zeit nicht mehr genutzten Turnhalle, die seit kurzem als provisorische Flüchtlingsunterkunft hergerichtet ist. Mohammad ist 18 Jahre alt, aber da er in diesem Schuljahr 18 geworden ist, bleibt er bis zum Ende des laufenden Schuljahres berufsschulpflichtig.
Der Eingang zur Turnhalle wird von zwei Security-Leuten bewacht, einer Frau und einem Mann. Sie sind höflich, freundlich, zuvorkommend, hilfsbereit und entsprechen äußerlich überhaupt nicht dem Bild, das man sich üblicherweise macht, teils klein[2], teils schlank, beide Geschlechter sind anzutreffen. Sie rufen Mohammad und seinen Vater zu mir in den Eingangsbereich. Die erste Hürde: Beide verstehen weder Deutsch noch Englisch. Aber dieses Problem löst sich schnell: Der Wachmann spricht Arabisch und steht sofort als Dolmetscher bereit. Binnen kurzem wissen die beiden, dass sie am Montag um 10:30 Uhr mit mir nach Stadtlohn fahren und ihre Dokumente mitnehmen müssen.
Dann geht es weiter zur ungastlichen Unterkunft am Venneweg. Der Vater von Zeynab und Mayd öffnet mir und lädt mich in den sauberen, aufgeräumten Raum, der sich gänzlich anders darstellt als Flur, Toiletten und Eingangsbereich des Hauses. Ich stelle mich vor und nenne den Anlass meines Besuches: „Schule“ – Sofort werde ich auf einen Stuhl gebeten und bekomme einen Kaffee angeboten. Aber, leider auch hier: weder Deutsch- noch Englisch-Kenntnisse. Da hilft ein kleines Wunder der Technik; die Mutter hält mit ein Smartphone vors Gesicht und deutet auf das Mikrophon in der Bildmitte. Ich spreche darauf mein Anliegen – und in der oberen Hälfte erscheint in lateinischer Schrift, was ich sage, in der unteren Hälfte die Übersetzung in arabischer Schrift, die nun mit der Blechstimme des Telefons vorgelesen wird. Das ist neu für mich, bisher hatte ich schon erlebt, dass übers Telefon ein Landsmann mit Deutsch-Kenntnissen angerufen wurde, der als Dolmetscher diente; aber dies ist wirklich eine große Hilfe. Zuhause stelle ich fest, dass es mittlerweile etliche dieser Apps gibt – und bald habe ich ein offizielles (kostenlos) auch auf meinem Handy installiert, mit dem ich nun über dreißig Sprachen anbieten kann. So klappt die Verständigung auch hier; bald wissen die Eltern, dass ihre beiden schulpflichtigen Kinder mit Vater oder Mutter mit mir nach Stadtlohn fahren müssen, auch am Montag um 10:30 Uhr zur Losbergschule, Zeynab um 10 Uhr zur Hilgenbergschule. Mit mir sind wir dann drei Erwachsene und drei Kinder – das geht nicht in einem Auto, also frage ich meine Frau – und sie kann mit ihrem Auto mithelfen. Wenn für eine solche Fahrt noch Kindersitze nötig sind, müssen die von den Enkelkindern herhalten.
Also geht es am Montag los, ab 9:30 Uhr sammeln wir die Fahrgäste ein und fahren zunächst zur Hilgenbergschule. Wir werden freundlich empfangen, die Schulleiterin nimmt die notwendigen Daten auf und schreibt sofort eine Zuweisung für Zeynab zur Von-Galen-Schule in Gescher.
Weiter also zur Losbergschule, hier übernimmt die Registrierung der Konrektor. Bald sind wir auch hier fertig. Mohammad wird dem Berufskolleg Technik in Ahaus zugewiesen, Mayd der Gesamtschule in Gescher. Die formale Sprachstandserhebung ist bei allen drei Kindern überflüssig; dass sie nicht Deutsch sprechen können, ist offensichtlich.
Kurze Zeit darauf sind wir in der Von-Galen-Schule und melden Zeynab an, die zwar in eine Regelklasse aufgenommen wird, aber noch ganz viel Unterricht in deutscher Sprache braucht und bekommen wird. Zeynab wird herzlich empfangen, ihrem Vater wird vermittelt, wann und wo er mit seiner Tochter am anderen Morgen zum Schulbeginn sein soll. Die große Grundschule ist schließlich ziemlich unübersichtlich, wenn man fremd ist.
In der Gesamtschule in Gescher ist es etwas anders, hier gibt es eine Vorbereitungsklasse, in der konzentriertes Deutschlernen angeboten wird. Erst nach diesem intensiven Kurs geht das Kind in die Regelklasse, die für sein Alter angemessen ist. Die Vorbereitungsklasse ist zwar der Gesamtschule zugeordnet, aber auch Real- und Hauptschule helfen bei der Bewältigung dieser Aufgabe mit. Auch hier geht die Anmeldung reibungslos vonstatten, Mayd fühlt sich gleich willkommen geheißen.
Und noch anders ergeht es Mohammad. Er kann zwar noch ein halbes Jahr in Ahaus am Berufskolleg Technik eine Vorbereitungsklasse besuchen, muss aber bis nach Weihnachten warten, vorher kann die Schule ihn nach Auskunft der Schulleitung nicht aufnehmen.
Die Vorbereitungsklasse der Gesamtschule in Gescher ist neu, am 2. November wurden die Jungen und Mädchen, die der Sekundarstufe I zugewiesen worden waren, in einer kleinen Feier mit Musik, Plätzchen und Getränken begrüßt. Flüchtlinge, die schon längere Zeit in Gescher leben, waren in den Sprachen Arabisch, Afghanisch und Albanisch die Dolmetscher.
Die neuen Gesamtschüler hatten einige Wochen warten müssen, denn die zuvor von Kindern aus Gescher besuchte Vorbereitungsklasse in Stadtlohn war voll. Selbstverständlich ist die Einrichtung der neuen Klasse (die übrigens nicht die Aufnahme von einheimischen Kindern beeinträchtigen wird) ein Glücksfall für die Schüler, aber auch für die Stadt Gescher. Die Wege sind kürzer, Fahrtkosten entfallen – und ganz wichtig: Die Integration wird durch die Möglichkeit gefördert, die Mitschüler nicht nur in der Schule, sondern auch im Freizeitbereich, im Sportverein, in der Musikschule[3]und auch privat zu treffen. Der Schule stehen die notwendigen Ressourcen zur Verfügung, sie hat den Raum für diese Kinder, und eine zusätzliche Lehrerstelle wurde ausgeschrieben und besetzt. Letzteres ist gar nicht selbstverständlich, denn eine Stelle und das Geld dafür zu haben, ist eine Sache, eine andere ist es, die passende Person auf dem Lehrerarbeitsmarkt zu finden.
Und was auch noch festzustellen ist: Viele Familien drängen ganz früh darauf, dass ihre Kinder die Schule besuchen können, und manche Kinder zeigen sich schon jetzt als fleißige und gute Lerner.


[1]Hervorhebungen vom Verfasser – HV
[2] kleiner als ich – und das will schon etwas heißen
[3] Wie für deutsche Schüler gibt es auch für die Flüchtlingskinder die Möglichkeit, nach dem Bundesteilhabegesetz Kosten für Sportvereine und Musikschulen ersetzt zu bekommen.