1970
Fangen wir mit 1970 an. Die Hauptschule in Gescher geht in ihr zweites Jahr. Es gibt (noch) viele Kinder; ein hoher Prozentsatz der Viertklässler geht zur Hauptschule, in der Regel sind es in diesen Jahren etwa 70 Prozent. Die neu errichtete Schule am Borkener Damm platzt aus allen Nähten – sie ist sofort zu klein. Die fünften Klassen, aber auch andere Jahrgänge werden ausgelagert. Da gibt es noch Platz in der Von-Galen-Schule, der katholischen Grundschule am Stadtpark. Allerdings: Diese Schule lagert Klassen in die ehemaligen Landschulen aus, zum Beispiel nach Tungerloh-Pröbsting. Und auf ihrem Schulhof steht ein Pavillon in Fertigbauweise, da werden im Schuljahr 1970/71 die Klassen 5 c und 5 d der Hauptschule untergebracht. Die Klassenlehrer sind Georg Bergmann (5 c) und Karin Huskamp (5 d). Die Klassen 5 a (Hermann Vortmann) und 5 b (Johanna Bargel) kommen an der ehemaligen Schulstraße unter, im Haus Nr. 13. Unten sind zwei Klassenräume, oben Dienstwohnungen für Lehrer: Frau Bonhoff und Herr Koch wohnen dort. Jetzt heißt die Straße „Konrad-Adenauer-Straße“, und später wird hier der Ludgerus-Kindergarten einziehen.
Die Unterrichtsverteilung erinnert stark an die Aufgaben des Klassenlehrers in der ehemaligen Schulform Volksschule. Trotz aller beschworenen Fachlichkeit müssen wir an den jeweiligen Standorten den Löwenanteil der Fächer selbst abdecken.
Ich bin also der neue Klassenlehrer und unterrichte in meiner 5 a eine ganze Reihe der Fächer – auch die, von deren Didaktik ich nicht viel weiß. In der 5 b unterrichte ich jedenfalls auch, Mathematik zum Beispiel und Musik. Spiegelbildlich macht Johanna („Hanneli“) Bargel das in ihrer Klasse ähnlich, auch sie hat eine ganze Reihe von Fächern zu unterrichten, und Englisch zum Beispiel unterrichtet sie in meiner Klasse. Ein paar Stunden (Mathematik, was sonst) unterrichte ich im Pavillon auf dem Schulhof der Von-Galen-Schule.
Den Sportunterricht hat Klaus Becker in beiden Klassen übernommen, Biologie macht eine Kollegin, ich meine, sie heißt Weilinghoff – und ich bin der Mentor der Junglehrerin Johanna „Hanneli“ Bargel, muss sie also im Unterricht besuchen und in meinen Unterricht einladen. Dass ab und zu jemand vom „Mutterhaus“ am Borkener Damm kommt, ist eine wahre Wohltat. So müssen wir nicht jede Pausenaufsicht und jede Busaufsicht selbst durchführen; wenigstens ab und zu nehmen unsere „Gäste“ uns eine dieser Pflichten ab.
Meine Klasse mag ich – durch die Bank sind es aufgeweckte Kinder, kritisch, lebhaft und kreativ. Ich bringe meinen Fotoapparat mit und mache ein paar Fotos, die die Zehn- bis Elfjährigen im Unterricht zeigen.
Eines Tages kommt der erste türkische Schüler in meine Klasse, Halil kann kaum ein Wort Deutsch, und ich habe keine Ahnung, wie man ausländischen Schülern bei laufendem Unterrichtsbetrieb mit deutschen Schülern die neue Sprache beibringt. Es gibt noch lange nicht die Fortbildungsangebote, auch nicht die Materialen, die später, etwa in den Achtzigern, zur Verfügung stehen. Ich setze darauf, dass der junge Türke im Kontakt mit den Klassenkameraden schon Deutsch lernt. Allmählich fädelt er sich ein.
Zweieinhalb Jahre bin ich ihr Klassenlehrer, vom fünften bis zum siebten Jahrgang, von August 1970 bis Ende Januar 1973. Dann löst mich die neue Kollegin Gaby Mönning ab. Ich bin mittlerweile als Fachleiter für Mathematik in der Lehrerausbildung tätig, die Zahl meiner Unterrichtsstunden reduziert sich dadurch erheblich.
1975
Ich freue mich, dass ich zur Feier der Schulentlassung (nach der neunten Klasse) eingeladen werde. Die zehnte Klasse, die die Hauptschüler zur „Mittleren Reife“ führt, kann freiwillig besucht werden, wenn man die entsprechenden Leistungen vorweist. So bleiben nur einige meiner Schüler bis 1976 in der Schule, alle anderen gehen jetzt in eine Ausbildung und ins berufsbildende Schulwesen.
2005
Mittlerweile habe ich meine berufliche Heimat in Hamburg gefunden, aber „meine“ Klasse hat mich nicht vergessen: Dreißig Jahre nach der Schulentlassung werde ich zum Klassentreffen eingeladen. Ich finde ein wenig Zeit, mich mit den mittlerweile 45-Jährigen zu unterhalten, bin dabei, als sie die ehemaligen Klassenräume am Borkener Damm aufsuchen, und wundere mich über die Entwicklung, die mancher genommen hat. Alle Berufsfelder sind vertreten, viele in Gescher bekannt, andere kommen aus der großen weiten Welt. Gaby Mönning ist auch da.
2015
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Quelle: Gescherer Zeitung |
Sie haben sich wieder verändert, zum Teil so, dass zwischen dem letzten Wiedersehen und heute nicht zehn Jahre, sondern ein halbes Leben zu liegen scheint. Und wie immer bei Klassentreffen: Manche sind selbst gekommen, manche scheinen ihren Vater oder ihre Mutter geschickt zu haben, wieder andere den Sohn oder die Tochter – so unterschiedlich haben sie sich entwickelt. Manche habe ich in Gescher häufiger getroffen, andere selten oder gar nicht. Manche sind Handwerker, auf deren Fertigkeiten und Dienste ich immer wieder gerne zurückgreife, andere arbeiten in der Stadtverwaltung, in Dienstleistungsberufen unterschiedlicher Art oder im Handel. Viele erkenne ich auf Anhieb, bei anderen muss ich nachfragen. Etliche sind schon Großeltern und lachen, als Gaby Mönning die neue Gesamtschule lobt und meint, die komme ja nun für die Anwesenden zu spät, für die Kinder aber doch recht. Sie rufen: „Für die Enkelkinder!“ Und in meinem Kopf beißen sich die Erinnerungen an die Kinder, wie sie auf den Fotos der siebziger Jahre zu sehen sind, mit den Wahrnehmungen, die ich jetzt habe, von einigen Omas und Opas, jedenfalls von etablierten Mittfünfzigern.
Umgekehrt scheint es einigen auch so zu gehen: Man schätzt mich älter, als die fünfzehn Jahre Altersunterschied, die es faktisch sind. Der Lehrer scheint wohl auch subjektiv der viel Ältere zu sein.