Informationen und Gedanken zu einer langen Streitgeschichte
Seit wann und warum ein Jahr weniger gymnasiale Schulzeit?
Im Jahr 2000 wurden in Deutschland erstmals die Ergebnisse eines PISA-Tests veröffentlicht. PISA war und ist ein Test, den die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) in ihren Mitgliedsstaaten regelmäßig durchführt. (Wir merken uns an dieser Stelle schon einmal, dass es sich um eine Organisation mit wirtschaftlichen Interessen handelt.) „PISA“ ist eine Abkürzung für „Programme for International Student Assessment“ – „Programm zur internationalen Bewertung von Schülern“. Gemessen wurden Leistungen von Schülern in der Sekundarstufe I (Klassen 5 bis 10). Die Gebiete, die getestet wurden, waren
- mathematisches Grundverständnis,
- naturwissenschaftliches Grundverständnis,
- Lesekompetenz und
- fächerübergreifende Kompetenzen.
Fächer, die zu einer guten Bildung dazugehören wie Musik, Kunst, Literatur, Religion, Geschichte, Politik und mehr – kurz der musische, der gesellschaftswissenschaftliche, erst recht der geisteswissenschaftliche Bereich – fehlten und fehlen auch heute noch vollständig.
Die Ergebnisse deutscher Schüler lagen überwiegend im (unteren) Mittelfeld, teils hinter Staaten, von deren besonderen Leistungen im Bildungsbereich man noch nicht gehört hatte. Skandinavische Länder waren ziemlich weit oben im Ranking vertreten – allen voran Finnland.
Die Öffentlichkeit und die Medien verkürzten die Informationen über die PISA-Ergebnisse zu der Botschaft, dass das deutsche Bildungssystem schlecht sei, und flugs reagierte die Politik auf die nationale Erregung. Über die Kultusministerkonferenz wurden etliche Maßnahmen beschlossen und flott umgesetzt: Nationale Untersuchungen zur Schulleistung, auch in der Grundschule, Verabschiedung von Bildungsstandards und zentralen Anforderungen für das Abitur, Einführung von zentralen Lernstandserhebungen – und auch Verkürzung der Schulzeit bis zum Abitur.
Bessere Leistungen durch weniger Schulzeit?
Wohl kaum, aber ein Effekt sollte ja auch sein, dass die Abiturienten ein Jahr früher in die Ausbildung und in den Beruf kommen. Nur: Die Abiturienten entwickelten andere Vorstellungen. Sie arbeiten im Bundes-Freiwilligen-Dienst (Bufdi), sie gehen als Missionarinnen auf Zeit nach Venezuela und was es sonst noch gibt, um sich in der Welt umzuschauen.
Nordrhein-Westfalen hat sich anders verhalten als andere Bundesländer: In Hamburg zum Beispiel dauert die Sekundarstufe I an Gymnasien wie an Gesamtschulen 6 Jahre, von Klasse 5 bis Klasse 10. Die gymnasiale Oberstufe dauert zwei Jahre (Sekundarstufe II). In Nordrhein-Westfalen dauert sie drei Jahre, dafür ist die Sekundarstufe I (nur) an Gymnasien ein Jahr kürzer, sie geht von der 5. bis zur 9. Klasse. In Hamburg wie in NRW trägt die Sekundarstufe I einen Teil der Last der Schulzeitverkürzung in den Gymnasien, in Nordrhein-Westfalen aber deutlich mehr. Weil für die jeweiligen Fächer und ihre Abschlüsse die zu absolvierenden Stunden Unterricht festgelegt sind, müssen die jüngeren Schüler mehr Stunden absolvieren.
Eltern und Kinder klagen über ausgebuchte Schultage, wenig Zeit für Freizeitaktivitäten, wenig Zeit, um Freunde zu treffen.
Seit der Einführung im Jahre 2005 kommt die Diskussion nicht zur Ruhe, sowohl um die Frage, wo die Kürzung stattfinden soll, in der Sekundarstufe I oder in der Sekundarstufe II, als auch generell um die Frage nach acht oder neun Schuljahren. Es gibt schon verschiedene Ansätze, Einzelschulen die Entscheidung für G8 oder G9 zu überlassen, die allerdings die Schwierigkeiten einer erneuten Umstellung vermeiden wollen. Während einige Länder G9 überhaupt nicht eingeführt hatten (Rheinland-Pfalz), sind andere auf dem vollständigen Rückzug von G8 nach G9 (Niedersachsen). Und wieder andere hatten nie G9 (Thüringen), G8 war in der DDR Standard.
NRW: G8 an Gymnasien, G9 an Gesamtschulen
In NRW und einigen anderen Bundesländern gilt die verkürzte Schulzeit nur für Gymnasien, nicht für Gesamtschulen. Wenn jetzt also die FDP in Nordrhein-Westfalen fordert, den Gymnasien die Entscheidung darüber zu überlassen, ob sie das Abitur nach acht oder neun Jahren vergeben wollen, haben die Eltern (und Schüler) diese Möglichkeit jetzt schon. Wer das Abitur nach acht Jahren wünscht, kann das am Gymnasium realisieren, wer es nach neun Jahren wünscht, kann eine Gesamtschule besuchen.
Vorschläge aus der Politik
G8 behalten und verbessern
So sah die überwiegende Meinung bis vor kurzem noch aus. Die am Runden Tisch der Schulministerin versammelten Vertreter von Eltern, Lehrern, Verbänden und mehr waren sich da weitgehend einig. Vor allem die Schulen selbst scheuen die mit einer Rückabwicklung verbundenen Schwierigkeiten.
Zurück zu G9
Das wollen mittlerweile Landeselternschaft und Bürgerinitiativen. Dagegen sind Unternehmer.
Wahlfreiheit für die Schulen
Schon 2010 hatte die Schulministerin Löhrmann den Schulen freigestellt, zu G9 zurückzukehren. Landesweit hatten nur sechs Gymnasien von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Heute ist die FDP dafür, dieselbe Partei, die sich bei der Einführung von G8 vehement für die Schulzeitverkürzung eingesetzt hatte. Ähnliches will die CDU, dabei die Sekundarstufe I wieder auf sechs Jahre ausweiten und die Oberstufe auf zwei oder drei Jahre, je nach Konferenzbeschluss der Schule festlegen. Auch die CDU revidiert damit die Änderungen, die sie bei Regierungsantritt seinerzeit mit der FDP vorgenommen hatte.
Wahlfreiheit für jeden Schüler
In den Regierungsparteien gibt es Überlegungen, G8 und G9 zu ermöglichen, und zwar indem man die Sekundarstufe I auf sechs Jahre verlängert und in der Oberstufe die Wahlmöglichkeit eröffnet, das Abitur nach zwei oder drei Jahren abzulegen. Das würde eine Individualisierung der Schullaufbahn bedeuten, mit der Folge, dass die Leistungsbreite im Gymnasium noch weiter auseinanderklafft, die jetzt schon bei einer Übergangsquote (von der Grundschule zum Gymnasium) von über 40 % enorm ist. Die Unterschiede zur Gesamtschule würden noch mehr schwinden.
Fazit
Die Situation ist unübersichtlich. Wonach soll man sich richten? Nach den Wünschen der Eltern, die überwiegend G9 wieder haben wollen? Nach den Bedürfnissen der Schulen, denen Kontinuität wichtiger ist als immer wieder Veränderung? In den Vorstellungen der Parteien ist zu erkennen, dass die eierlegende Wollmilchsau die Wählerstimmen bringen soll. – Wir werden sehen.