Inklusion auch nach der Landtagswahl

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Inklusion – nötig und schwierig

Im Zuge der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen hörte man wiederholt, dass die Inklusion zur Abwahl der rot-grünen Landesregierung beigetragen habe. Damit meinte man üblicherweise die Inklusion im Schulwesen. Man fragte – auch mich immer wieder -, wie denn das gehen solle, das Lernen der geistig Behinderten mit den Normalen. Hinter einer solchen Frage steckt die Jahrhunderte alte Auffassung, dass man zum Lernen in der Schule homogene Gruppen benötige, also Schüler, die etwa gleich alt sind, etwa gleich intelligent und etwa gleich begabt. Diese Homogenität gibt es nicht, nicht in der Schule, nicht im Arbeitsleben. Weil das so ist, gibt es durch das Schulgesetz schon seit langem den Auftrag der individuellen Förderung. Jedes Kind soll in seinen individuellen Möglichkeiten, Kompetenzen und Schwierigkeiten erfasst und gefördert werden.

Nun liest man in der Zeitung, die neue Schulministerin wolle am Ziel der Inklusion festhalten. „Vor Tische las man’s anders.“ (Schiller in Wallenstein/Die Piccolomini)

In der Diskussion gab und gibt es einige Missverständnisse, auf die ich aufmerksam machen will. Wir fangen mit der UN-Behindertenrechtskonvention an und werfen dann einen Blick auf die Schulen.

Inklusion betrifft die ganze Gesellschaft

UN-Behindertenrechtskonvention

Die Bundesrepublik Deutschland als ganze hat die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, nicht einzelne Bundesländer. Im März des Jahres 2009 trat sie in Deutschland in Kraft – ein Vorgang, der rechtlich komplex ist, da die Bundesrepublik als föderaler Staat die Bundesländer zur Umsetzung in vielen Bereichen benötigt. Diese Konvention wird durch den Begriff „Inklusion“ ganz zentral geprägt: Er bedeutet mehr als die bisherige „Integration“ behinderter Menschen. Es geht nicht mehr darum, dass der behinderte Mensch sich anpasst, um an und in der Gesellschaft teilzuhaben, vielmehr muss sich die Gesellschaft den Erfordernissen dieser Menschen anpassen. Behinderte Menschen werden von Anfang an einbezogen, die gesellschaftlichen Strukturen werden auch an ihren Bedürfnissen ausgerichtet. Der Vertragstext weist als Zweck unter Artikel 1 aus:

„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“

Die notwendigen Änderungen betreffen viele Felder der Gesellschaft, auch und besonders die Schulen in ihrer inneren und äußeren Struktur. Hierzu setzt der Artikel 24 der Konvention mit der Überschrift „Bildung“ entsprechende Vorgaben: Es heißt in Absatz 2:

„(2) Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass

a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;

b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;

c) angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;

d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern;

e) in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.“ (Die deutsche Übersetzung verwendet den Begriff „Integration“, gemeint ist eine Füllung dieses Begriffs im Sinne der oben beschriebenen „Inklusion“.)

Begriffe aus der Geschichte von Behindertenpolitik und –pädagogik

Man unterscheidet in der Entwicklung der Behindertenpolitik, gerade auch der Behindertenpädagogik, nach einem Stufenmodell, das von verschiedenen Autoren seit den neunziger Jahren entwickelt wurde, die Extinktion, die Exklusion, die Segregation, die Integration und die Inklusion.

Extinktion …

… heißt Auslöschung, Tötung von Behinderten – eine Praxis nicht nur aus grauer Vorzeit. Nicht zuletzt sei an das Euthanasieprogramm der Nazis erinnert. Auch in der aktuellen, der heutigen Diskussion gibt es ethische Konzepte, die Behinderten das Recht auf Leben nicht ohne weiteres zugestehen, so die utilitaristische Ethik des Philosophen Peter Singer und die Haltung des bekannten Biologen Richard Dawkins. Auch die deutsche Abtreibungspraxis und das entsprechende Abtreibungsrecht sind nicht frei von diesem Gedankengut (u. a. Spätabtreibungen). Nach der Diagnose Down-Syndrom werden 90 % der Schwangerschaften abgebrochen, wie Denise Linke in einem Artikel auf ZEIT online mit dem Titel Unser Abtreibungswahn schreibt.

Exklusion …

… bedeutet Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben, auch den Ausschluss von der Beschulung. Man verweigert in dieser Phase den Behinderten das Recht auf Bildung. Sie werden in der Familie oder in Anstalten verwahrt. Die Älteren unter uns kennen solche Fälle in unserer Geselschaft.

Segregation …

… ist die Trennung von Behinderten und Nichtbehinderten in verschiedene Systeme (Sonderschule vs. Regelschule). In Deutschland gilt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Schulpflicht auch für Behinderte.

„Der Phase der Segregation liegt die »Zwei-Schulen-Theorie« zugrunde. Es gibt »Regelschulen« für »normale« Kinder und »Sonderschulen« für ̇»behinderte« Kinder.“ (Wocken, Hans: Qualitätsstufen der Behindertenpolitik und -pädagogik)

Integration …

… bedeutet eine Trennung innerhalb des Systems. In die Regelschulen (auch allgemeine Schulen genannt) werden bestimmte Kinder aufgenommen, die als „behindert“ diagnostiziert sind. Die Zwei-Schulen-Theorie wird von der Zwei-Gruppen-Theorie abgelöst. In der allgemeinen Schule gibt es dann normale und behinderte Kinder.

Inklusion …

… bedeutet: Die Kinder mit Behinderungen verlieren  ihren besonderen Status der Andersartigkeit. Vielfalt ist normal, alle Kinder sind unterschiedlich, anders, einzigartig, individuell. Diese Sichtweise hat Folgen für die Organisation und die innere Gestaltung von Schule und Unterricht. Die inklusive Pädagogik verzichtet darauf, Kinder gleichzuschalten und zu normalisieren; nicht die Kinder werden passend für die Schule gemacht, sondern die Schule passt sich den Kindern an.

„Inklusion ist die ultimative Integration, sozusagen der Olymp der Entwicklung, danach kommt nichts mehr.“ (Wocken, a. a. O.)

Was heißt das konkret für die Schule?

Inklusion geschieht zum Beispiel dadurch, dass die Schulleitung für den Schüler mit Rollstuhl den Klassenraum im Erdgeschoss vorsieht, der Schulträger eine Rampe oder einen Aufzug baut. Für den Schwerhörigen gibt es gute Systeme, die ihm helfen, dem Unterricht zu folgen, für Sehschwache gibt es spezielle Unterrichtsmaterialien, für einige Körperbehinderte braucht man Pflegemöglichkeiten sächlicher und personeller Art. Natürlich kostet das Geld, insofern braucht es Zeit, bis man die verbrieften Ansprüche auf Inklusion umsetzen kann. Zeit braucht es auch, bis die Lehrkräfte gelernt haben, mit dieser Vielfalt umzugehen. Es handelt sich um Ausbildungs- und Fortbildungsfragen.

Probleme

Vor bestimmten Teilbereichen der Inklusion in der Schule scheuen Lehrer oder Eltern, auch Schulträger und weitere Kostenträger, zurück:

  • Schüler mit emotionalen oder sozialen Problemen, die den Unterricht stark stören können, stehen hier an erster Stelle. Manche Lehrkräfte haben regelrecht Angst davor.
  • Auch Kinder mit einer geistigen Behinderung, teils auch nur mit einfachen Lernschwächen, treffen immer wieder auf Vorbehalte, wenn es um Unterricht in Regelklassen geht.
  • An organisatorische, räumliche, personelle oder finanzielle Grenzen kommt man, wenn es um die Pflege von Körperbehinderten geht.
  • Die Sachausstattung für seh-, hör- oder sprachbehinderte Kinder kann auch kostenaufwendig sein; Aufzüge für Körperbehinderte ebenfalls.
  • Zu erheblichen Kosten führt auch die notwendige Ausstattung von Schulen mit entsprechend vorgebildeten Lehrkräften. Zurzeit würde auch eine volle Kasse nicht helfen: Der Arbeitsmarkt für solche Lehrer ist leergefegt.