Eine kleine Geschichte der Don-Bosco-Schule – Teil VI (2000 bis 2017)

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Cover Broschüre Hauptschule 1968
Broschüre des Kultusministeriums 1968 zur Einführung der neuen Schulform

Mit dieser Broschüre machte man den Hauptschülern und ihren Eltern die Hauptschule schmackhaft. Der Verweis darauf, dass man in der Hauptschule ohne Zeitverlust alle Abschlüsse errreichen könne, wenn man nur begabt und fleißig sei, war so allgemein sicher richtig; aber die Begabten und ihre Eltern wählten im Laufe der Jahre immer weniger die Hauptschule. Die ehedem große Hauptschule in Gescher wurde immer kleiner, die anfangs über 60 % liegende Übergangsquote von der Grundschule kam mittlerweile der 20-Prozent-Marke bedrohlich nahe; ihr Ende schien bereits um 2010 unvermeidlich.

Dennoch – im Landesvergleich, der jetzt durch die zentralen Lernstandserhebungen möglich wurde – hatten Geschers Hauptschüler sehr ordentliche Leistungen vorzuweisen:

Sowohl bei den Lernstandserhebungen als auch bei den Zentralen Abschlussarbeiten erzielt die Schule Ergebnisse, die über dem Durchschnitt liegen.

Quelle: Homepage der Don-Bosco-Schule Gescher

Was verbirgt sich hinter dieser Formulierung? – Im neuen Jahrtausend ging es in den Schulen um messbare Qualität. Damit ist man meiner Meinung nach zu kurz gesprungen. Aber der Reihe nach.

Der Paukenschlag PISA

Nicht ein pädagogisches Forschungsinstitut, keine Kultusministerkonferenz (KMK) und auch keine Hochschule zeichnete für PISA verantwortlich; es war vielmehr die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Und PISA bedeutet: Programme for International Student Assessment (PISA).

Das Programm untersucht, inwieweit Schülerinnen und Schüler gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit Kenntnisse und Fähigkeiten erworben haben, die es ihnen ermöglichen, an der Wissensgesellschaft teilzuhaben.

Quelle: http://www.oecd.org/berlin/themen/pisa-studie/

Das ist eine sehr interpretationsfähige Formulierung. Zumindest liegt ihr kein Begriff von dem zugrunde, was „Bildung“ bedeuten könnte.

Deutschland und viele andere Länder hatten sich an den Untersuchungen von PISA 2000 beteiligt. Als Anfang Dezember 2000 die Ergebnisse vorgelegt wurden, ging ein Aufschrei durch die Republik, angeführt von den großen Überschriften der BILD-Zeitung. Dabei wurde übersehen, dass diese Studie nicht pauschal Leistungen von Schülern, Qualität von Schulen oder Güte der Bildung in Deutschland maß, sondern sich auf wenige Bereiche konzentrierte:

 Primäre Aufgabe des Programms ist es, den Regierungen der teilnehmenden Staaten regelmäßig Prozess- und Ertragsindikatoren zur Verfügung zu stellen, die für politisch-administrative Entscheidungen zur Verbesserung der nationalen Bildungssysteme brauchbar sind. Dabei ist der Begriff der politisch-administrativen Entscheidung weit gefasst. Er bezieht alle Ebenen des Bildungssystems ein, auch die Entwicklung der Einzelschule sowie alle Unterstützungssysteme von der Lehrerausbildung bis zur Schulberatung.Die Indikatoren beziehen sich auf die Bereiche Lesekompetenz (Reading Literacy), mathematische Grundbildung (Mathematical Literacy), naturwissenschaftliche Grundbildung (Scientific Literacy) und fächerübergreifende Kompetenzen (CrossCurricular Competencies). Zu den fächerübergreifenden Kompetenzen gehören im ersten Zyklus – wenn man einmal vom Leseverständnis als fächerübergreifender Basiskompetenz absieht – Merkmale selbstregulierten Lernens und Vertrautheit mit Computern.

Quelle: Baumert, Artelt, Klieme, Neubrand, Prenzel, Schiefele, Schneider, Schümer, Stanat, Tillmann, Weiß (Hrsg.): PISA 2000.Ein differenzierter Blick auf die Länder der Bundesrepublik Deutschland. Zusammenfassung zentraler Befunde. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, 2003. S. 3

Und hier eine tabellarische Übersicht über die Ergebnisse für Deutschland.

PISA 2000 Ergebnisse
Ergebnisse von PISA 2000 in einer Tabelle zusammengefasst

Quelle: Stanat · Artelt · Baumert · Klieme · Neubrand · Prenzel · Schiefele · Schneider · Schümer · Tillmann · Weiß: PISA 2000: Die Studie im Überblick – Grundlagen, Methoden und Ergebnisse: MPI Berlin. S. 8

Deutschland gehörte – wie man der Tabelle leicht entnehmen kann – in allen drei getesteten Bereichen (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften) zu den Ländern, die unterdurchschnittlich abgeschnitten hatten. Die Studie hätte eine sorgfältige Analyse verdient, nicht nur ihrer Ergebnisse, sondern auch ihrer Verfahren und Methoden, ihres Begriffes von Bildung und ihrer Zielsetzung wegen. Aber weil das oberste Ziel von Politikern ist, wiedergewählt zu werden, folgten sie schnell den hämischen Kommentaren ebenso wie Volkes Stimme und erklärten die Ergebnisse von PISA zum Maß für die Qualität des Bildungssystems. Alle drei Jahre wird PISA auch heute noch durchgeführt; dabei wechseln die Schwerpunkte. Deutschland hat sich im Ranking dieser Tabellen deutlich verbessert, aber immer noch Defizite zum Beispiel bei der Entkoppelung von Herkunft und Schulerfolg.

Änderungen für die Schulpolitik in Deutschland

Die Kultusministerkonferenz verabschiedete ungewohnt schnell einen Katalog von Maßnahmen, die Deutschland im Ranking weiter nach oben bringen sollten. Bildungsstandards sollten bundeseinheitlich entwickelt werden, gewissermaßen Ziele, die Schüler am Ende der Schulzeit erreichen sollten. Mit den Standards für die PISA-Fächer (Sprachen, Mathematik, Naturwissenschaften) ging es los, weitere folgten. Außerdem sollte die Bildung früher beginnen und die Betreuung im Kindergarten ergänzen. Die Schulzeit sollte verkürzt und Schulinspektionen eingeführt werden. Ein Bildungsmonitoring solte den Überblick über die Entwicklung der Leistungen der Schulsysteme der Länder gewährleisten und mehr. Die EPA, einheitliche Prüfungsanforderungen im Abitur waren schon früh verabredet worden. Lernstandserhebungen (zentrale Vergleichsarbeiten) sollten eingeführt werden, Abschlussprüfungen zentrale Aufgabenstellungen enthalten. Es war viel los im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends. Kernlehrpläne der Bundesländer sollten Kompetenzen beschreiben, die sich möglichst an den PISA-Kompetenzen orientierten. In Fachkreisen nennt man diese Vorgehensweise „teaching for the test“.

Zu den Konsequenzen von PISA gehörte auch die vermehrte Umwandlung von Halbtagsschulen in Ganztagsschulen. Das veränderte Familienbild, in dem die Berufstätigkeit beider Elternteile normal wurde, der Ausgleich schwieriger häuslicher Verhältnisse und mehr führte auch in der Sekundarstufe I zu Ganztagsschulen in allen Schulformen, vor allem in den Hauptschulen – in den Gesamtschulen gehörte der Ganztagsbetrieb ohnehin zum Standard.

Die Don-Bosco-Schule wird Ganztagsschule

Nun müssen wir zunächst Begriffe klären: Die Ganztagsschule gibt es als offene Ganztagsschule – wie in vielen Grundschulen – und als gebundene Ganztagsschule. Im ersteren Fall findet der Unterricht nach Stundenplan vollständig am Vormittag statt, nachmittags wird Betreuung angeboten wie Spiele, Arbeitsgemeinschaften, Beratung, sozialpädagogische Angebote, Hausaufgabenhilfe und mehr. Der Vorteil: Eltern und Kinder können zwischen Ganztag und Halbtag wählen. Gleichgültig, ob die Kinder nur am Vormittag oder den ganzen Tag über in der Schule sind, alle bekommen den gleichen Pflichtunterricht. Der Nachteil: Die harten Arbeitsphasen liegen am Vormittag, die weicheren Angebote alle am Nachmittag. In einer gebundenen Ganztagsschule wechseln sich Unterrichtsstunden und Betreuungsphasen vormittags und nachmittags ab. Weil der Unterricht über den ganzen Tag verstreut stattfindet, kann niemand mittags heimgehen. Ein wichtiger Vorteil: Die Fachräume für Fächer wie Physik oder Biologie und Küche  und Sporteinrichtungen können den ganzen Tag über für Unterricht genutzt werden.

Grundsätzlich ist es organisatorisch möglich, dass in größeren Schulen Halbtag und Ganztag angeboten wird: 5 a ist eine Halbtagsklasse,  5 b und 5c arbeiten im gebundenen Ganztag. Diese Möglichkeit war in Nordrhein-Westfalen für die Hauptschulen nicht vorgesehen; die Schulen sollten reine gebundene Ganztagsschulen sein. Nach einigem Hin und Her gelang es der Don-Bosco-Schule und der Stadt Gescher als Schulträger, die Erlaubnis für eine Halbtagsschule mit Ganztagszweig zu erlangen. Die Schule schreibt hierzu auf ihrer Homepage:

Die Don-Bosco-Schule Gescher wird ab 2008/2009 in zwei Formen geführt: als Halbtagsschule und als Ganztagsschule (beginnend mit einer Klasse 5). Sie geht mit einem Ganztagszweig … an den Start –  mit der Besonderheit für NRW: als Halbtagsschule mit Ganztagszweig .

Quelle: Homepage der Don-Bosco-Schule Gescher

Auslaufend gestellt

Trotz guter Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer an der Don-Bosco-Schule wie auch an der städtischen Realschule – das Ende war abzusehen, auch wenn es noch nicht alle wahrhaben wollten. Die Eltern wählten die Hauptschule als Schulform nicht mehr. Die Realschule hatte ihre ursprüngliche Schülerklientel teils an das Gymnasium abgetreten und dafür die der Hauptschule in weiten Teilen übernommen.

Nach einem Anstoß durch den Vorsitzenden der CDU-Fraktion, Egbert Kock, machte sich die Politik auf den Weg. Nach mehreren Elternbefragungen und Informationsveranstaltungen, teils unter Mitwirkung des Beratungsunternehmens biregio aus Bonn, nach Einbindung der Schulen, vor allem der Kollegien beider Schulen, und nach dem Schulkompromiss in der Landespolitik stand am Ende der Beschluss des Stadtrates, eine Gesamtschule zu gründen und die Hauptschule wie auch die Realschule auslaufend zu stellen.

Ein Blick über den Zaun – Hauptschulen im Wandel der letzten Jahre

Gescher ist kein Einzelfall, was das Auslaufen der Schulform Hauptschule angeht. Als ich Schulamtsdirektor im Schulamt für den Kreis Borken war (bis 2004) gab es noch knapp 30 Hauptschulen im Kreisgebiet. Jetzt sind noch gerade 14 Hauptschulen in Betrieb, von denen 12 (!) auslaufen. 

Schauen wir uns das Beispiel Vreden genauer an:

Bis zum Beginn der 90-er Jahre gab es eine Kooperation zwischen Stadtlohn und Vreden dergestalt, dass die Realschüler aus Vreden überwiegend die Stadtlohner Realschulen besuchten, während die Gymnasiasten aus Stadtlohn zum größten Teil in Vreden zur Schule gingen. Mit der Errichtung eines eigenen Gymnasiums in Stadtlohn war diese Zusammenarbeit aufgekündigt und Vreden gründete eine eigene Realschule, zu allem Überfluss in der Nachbarschaft der Walbert-Hauptschule. Beide Gemeinden hatten zu dieser Zeit zwei Hauptschulen. In dieser Region  mit bislang sieben Schulen der Sekundarstufe I wurden also noch zwei weitere hinzugefügt, eine Realschule und ein Gymnasium; in Zeiten des demographischen Wandels ein Unsinn, der in beiden Fällen durch die Bezirksregierung mit öffentlichen Schulbaumitteln gefördert wurde.

Auf der Website der St.-Georg-Schule, einer der beiden Hauptschulen in Vreden, erschien 2012 dieser Text:

Seit Ende der 90-er Jahre, insbesondere seit Gründung und Bau einer Realschule in Vreden ging die Schülerzahl an den beiden Hauptschulen, Walbert-Schule und St.-Georg-Schule, kontinuierlich zurück. Im Jahr 2011 fusionierten beide Schulen und werden seither als St.Georg-Schule, Gemeinschaftshauptschule der Stadt Vreden, an 2 Standorten weitergeführt.

Und die Geschichte wiederholt sich:

Im Dezember 2010 beschloss der Rat der Stadt Vreden die Teilnahme an einem Schulversuch im Land Nordrhein Westfalen.

Die Versuchsschule sollte „Gemeinschaftsschule“ heißen. Als der Versuch im Frühjahr 2011 durch ein Gerichtsurteil abgebrochen wurde, einigte sich der Landtag NRW auf eine neue Schulform mit Namen „Sekundarschule“.

Vreden wird laut Ratsbeschluss ab 2013 eine Sekundarschule einrichten. Sie löst die bestehenden Schulformen Realschule und Hauptschule ab.

Quelle: http://www.georg-schule-vreden.de/index.php?article_id=19

Die Folge also war, dass in Vreden die beiden Hauptschulen und die Realschule ausliefen, während eine Sekundarschule errichtet wurde. In Stadtlohn schloss eine der beiden Hauptschulen und machte im Wortsinne Platz für ein Gymnasium. Von neun Schulen blieben fünf übrig, von vier Hauptschulen eine. Dieser Prozess vollzog sich binnen eines Jahrzehnts.

Wie in Vreden so schlossen oder schließen derzeit gewissermaßen als Kollateralschaden auch große und gut arbeitende Realschulen in Borken, Bocholt, Rhede und Ahaus. Und die Hauptschulen in den kleinen Kommunen hatten ohnehin keine Chance mehr – ihre Schülerzahlen reichten auf Dauer nicht für einen geordneten Schulbetrieb aus. Heek, Raesfeld, Heiden, Velen – zum Teil kam es zur Errichtung von Sekundarschulen in Trägerschaft einer Kommune, manchmal schlossen sich Gemeinden zusammen, um eine solche zu errichten.