Der folgende Text wurde als Vortrag anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Pankratiusschule“ im Rahmen des Festaktes am 26. Juni 2010 gehalten.
„Das Jahrhundert des Kindes“ – Ein kurzer Streifzug durch hundert Jahre Schulpädagogik
„Das Jahrhundert des Kindes“[1] -so lautete ein Buchtitel der Schwedin Ellen Key zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Bei der Feier des hundertsten Geburtstags einer Schule Grund genug, einmal zurückzuschauen auf das vergangene Jahrhundert, und der Frage nachzuspüren, ob es dieses Versprechen einlösen konnte.
Es muss in den Sommerferien 1966 gewesen sein, also vor 44 Jahren; ich stand kurz vor der Ersten Staatsprüfung, Günter Hillebrand, später Fachleiter für Englisch am Bezirksseminar in Coesfeld und noch später Rektor in Hochmoor, hatte sie schon ein Jahr früher abgelegt, war am 1. April 1966 mit seinem weißen VW-Käfer (Standard!) in Gescher eingetroffen und hatte den Unterricht in einer 2. Klasse der Pankratiusschule übernommen. Wir waren in diesen Sommerferien mit dem besagten Käfer auf dem Weg von Münster nach Holland; Günter nutzte die Gelegenheit, mir die Pankratiusschule, „seine“ Schule, zu zeigen. Ich war nicht sonderlich beeindruckt, aber als der damalige Schulrat Heinrich Kreis mich 1968 fragte, ob ich nach Coesfeld oder nach Gescher versetzt werden wollte, wählte ich Gescher. – So kam ich in den Sommerferien 1968 wieder nach Gescher, diesmal, um mit Rektor Werner Marx meinen Einsatz im kommenden Schuljahr zu besprechen. Der Schock saß tief: Ich war noch Junglehrer, hatte also die Zweite Staatsprüfung noch nicht abgelegt, verfügte nur über die Erfahrung von 20 Monaten zweiklassige Landschule in Beerlage-Temming, und jetzt sollte ich die Klassen 1 b und 1 c gleichzeitig als Klassenlehrer führen, die eine mit 42, die andere mit 48 Kindern. Die 1 a bekam Frau Bilek, gleichzeitig meine Mentorin. Am 6. August 1968 nahm ich den Unterricht also auf.
Dieses Jahr 1968 hatte es in sich: Es war das Jahr der großen Reform: Die Volksschule wurde zerlegt in Grundschule und Hauptschule, die kleinen, wenig gegliederten Landschulen wurden zugunsten größerer Systeme aufgelöst, es half auch nicht, dass in Estern, Tungerloh-Capellen und Tungerloh-Pröbsting noch recht neuwertige Schulgebäude standen. Sie wurden noch einige Jahre als Filialen genutzt, dann einer anderen Nutzung zugeführt. Nach Gescher kam die Reform allerdings ein Jahr später, 1969.
Ich war nur gut ein Jahr Lehrer an der Pankratiusschule, doch dieses Jahr hatte es in sich. Davon später mehr.
I. Schule im Kaiserreich
Immer wieder beziehen sich die Schulpädagogen auf dieses Buch von Ellen Key: „Das Jahrhundert des Kindes“, 1902 erschienen. Im Gefolge entstand das Schlagwort der „Pädagogik vom Kinde aus“, das die Basis für eine Flut von reformpädagogischen Ansätzen, nicht nur, aber gerade auch in Deutschland, bildete, wenn auch erst mit einiger Verzögerung.
Ellen Key war Schwedin. Aber in Deutschland regierte der Kaiser, wenngleich auch in dessen Reich die Schule nicht zentral gestaltet und verwaltet wurde, sondern „Ländersache“ war – wie heute auch. In Herders „Lexikon der Pädagogik“ von 1913 taucht der Name Ellen Keys daher noch nicht auf.
Die Schule im Kaiserreich war schon in ein allgemeinbildendes und ein berufsbildendes Schulwesen unterteilt. Die Berufsschule fand übrigens sonntags statt, sie hieß Fortbildungsschule und sollte für die männliche Jugend die Lücke zwischen Volksschule und Militärdienst schließen, sie vor den Gefährdungen des Großstadtlebens und insbesondere der Sozialdemokratie schützen.[2] In der Woche mussten auch die Lehrlinge sechs Tage arbeiten. Mein Vater, Jahrgang 1894 und damals Sattlerlehrling, hat mir hiervon und von der Fortbildungsschule oft genug erzählt. Die allgemeinbildenden Schulen hießen „Erziehungsschulen“. Ihr Auftrag war, „dem Leben zu dienen“, wie es in einem Lehrbuch der Pädagogik aus dem Jahre 1910 heißt. Und jetzt wörtlich die damalige Begründung für ein dreigliedriges Schulsystem: „Dabei sollen die Unterrichtsstoffe nach Art und Umfang zugleich dem Bedürfnis derjenigen gesellschaftlichen Schicht und ihrer Arbeit entsprechen, der die betreffende Schule dienen will. Man scheidet … die große Arbeitsgemeinschaft der Nation … in drei Gruppen oder Stände. Den untersten Stand bilden die Handwerker (Tagelöhner, Fabrikarbeiter, Kleinbauern, Kleinhandwerker, Unterbeamte etc.), die vorwiegend mechanische, gleichbleibende Arbeit verrichten. Den Mittelstand stellen die Kleinkaufleute, Kunsthandwerker, Großbauern, mittleren Beamten, die durch Einsicht und Kenntnisse befähigt sind, die wirtschaftliche Arbeit der Nation zu unterhalten, die von der Wissenschaft dargereichten Theorien praktisch zu verwerten und die Gedanken der höheren Leitung zur Ausführung zu bringen. Den obersten Stand bilden die Wegweiser des kulturellen Fortschritts, die durch ihre neuen Ideen den Grund für die erfolgreiche Weiterführung und Vervollkommnung der nationalen Arbeit legen (Großindustrielle, Großkaufleute, Gelehrte, höhere Militärs und Beamte). Den allgemeinen Bildungsbedürfnissen dieser, aus der geschichtlichen Entwicklung hervorgegangenen, sozialen Schichten passt sich das deutsche Schulwesen in weitgehendem Ausmaße an, deshalb gliedert es sich in ein höheres, mittleres und niederes Schulwesen…“[3]
Wenn es auch damals schon in der Schulpädagogik andere Ansätze gab, schon damals sprach man von der „Einheitsschule“, das so grundgelegte dreigliedrige Schulsystem bildete natürlich die Basis auch für Gescher, auch für die Pankratiusschule, die aber nicht ausschließlich Volksschule blieb, sondern – wie wir wissen – zeitweise ja auch Klassen des mittleren Schulwesens führte.
Das Ziel der schulischen Bildung war also, Schüler passend für die Gesellschaft zu erziehen, so wie diese Gesellschaft eben existierte, und nicht Schüler zu befähigen, als mündige Bürger die Gesellschaft zu verändern und zu gestalten, gewiss nicht. Gehorsam war ein Ziel, das natürlich auch das Militär prägte, und das Militär prägte die Gesellschaft. Also erzog die Schule zum Gehorsam. Und in der Wahl der Mittel, dieses Ziel zu erreichen, war man nicht zimperlich.
II. Der Rohrstock
Wenn wir an diese alte Schule denken, dann fällt uns neben dem erhöhten Pult und den starren Bänken sicher auch der Rohrstock ein, der gewiss nicht nur als Zeigestock diente. Entsprechendes Anschauungsmaterial gibt es ja in den Schulmuseen, in Ahaus im Schloss, im Mühlenhof in Münster, auch in Hamburg, übrigens in der Nähe der Reeperbahn. Es heißt im bereits erwähnten „Lexikon der Pädagogik“ von 1913: „Das Recht des Lehrers, seine Schüler körperlich zu züchtigen, ist so alt wie die Schule selbst.“ Aber auch damals schon spürte der Verfasser offenbar ein Unbehagen; er fährt nämlich fort: „Dass viele Erzieher ohne körperliche Züchtigung auskommen, steht fest. Aber ebenso sicher ist, dass sich die Entbehrlichkeit der körperlichen Züchtigung viel leichter in der Theorie dartun als in der Praxis ausführen lässt.“ Prügel und Demütigungen gehörten gleichwohl selbstverständlich zum Schulalltag. 1898 hatte der preußische Kultusminister Robert Bosse die Prügelstrafe abgeschafft. Er wurde daraufhin zum Rücktritt gezwungen. Sein Nachfolger Studt gab den Lehrern das Recht zu prügeln wieder, es sollte jedoch „nur zum Nutzen und Frommen der Schüler“ angewendet werden.
Die durch Recht und Gesetz vorgegebenen Grenzen wurden immer wieder überschritten. Die dringende Notwendigkeit der rechtlichen Regelung war auch wohl deshalb geboten, weil es immer wieder maßlose und ernsthafte körperliche Schäden verursachende Züchtigungen gab, von den seelischen Folgen ganz zu schweigen. Der Erlass des Kultusministers von Nordrhein-Westfalen aus dem Jahre 1947 regelte die Sache so: Er untersagte die körperliche Züchtigung bei Mädchen sowie bei Knaben des 1. und 2. Schuljahres grundsätzlich. Bei Knaben war sie nur in den seltensten Fällen erlaubt, z. B. bei Rohheits- und Grausamkeitsvergehen. Dieser Erlass galt zwanzig Jahre später noch, als ich 1967 in den Schuldienst eintrat. In Nordrhein-Westfalen wurde dieses „Erziehungsmittel“ erst in den 70-er Jahren des letzten Jahrhunderts zunächst durch Erlass verboten, dann – als diese Form nicht ausreichte, weil Gerichte Lehrern ein „Gewohnheitsrecht“ zubilligten – durch Gesetz.
III. Pädagogik „vom Kinde aus“
Das Gegenprogramm bildeten die reformpädagogischen Bemühungen: Um die Jahrhundertwende hatte sich die Pädagogik als eine der letzten Wissenschaften von der Philosophie gelöst und den eigenen Auftrag, das eigentlich pädagogische Kriterium entwickelt. Schulmeister wurden nicht mehr als „Diener anderer Mächte, des Staates, der Konfessionen, der Wissenschaft“ [4] gesehen, selbstbewusst standen sie fremden Anforderungen, auch des Staates wie der Gesellschaft überhaupt, kritisch gegenüber. Es ging ihnen um Kinder, um ihr Werden, ihre Bildung. Autoren wie Ellen Key aus Schweden, John Dewey aus den USA, Hugo Gaudig, Alfred Lichtwark, Paul Geheeb (Gründer der Odenwaldschule), Ludwig Gurlitt und viele andere aus Deutschland wollten nicht mehr Jasager und unselbständige Menschen erziehen, es ging nunmehr um einen neuen Individualismus, verbunden mit der Erziehung zur Gemeinschaft. Wichtige Prinzipien waren die Selbsttätigkeit der Schüler, das freie Gespräch, Erlebnispädagogik, Schulgemeindepädagogik, praktische Tätigkeiten oder Lernen durch Handeln. John Dewey ging es um Projektmethode und Demokratisierung, Hugo Gaudig um Gruppenarbeit und Selbsttätigkeit, Janusz Korczak um Kinderrechte, Maria Montessori um Freiarbeit, Berthold Otto um „Gesamtunterricht“, also fächerübergreifenden Unterricht, eine „Arbeitsschule“ wollte Georg Kerschensteiner, in der das Lernen über Anwendungsorientierung – so würden wir heute sagen – und Handeln im Sinne handwerklichen Tuns ging usw. Schöpferische Inhalte prägten den Unterricht: „Freie geistige Arbeit“, so drückte es Gaudig aus. Phantasie war angesagt, das Erziehungsziel der Selbständigkeit und Mündigkeit kündigte sich an. Viele dieser Reformideen bestimmen heute noch die Richtlinien und Lehrpläne unserer Schulen, vor allem der Grundschulen. Projektunterricht, fächerübergreifender Unterricht, Freiarbeit sind auch heute noch – oder wieder – im Unterricht unserer Schulen anzutreffen.
Als Ideengeber sind zum Beispiel zu nennen:
- Maria Montessori aus Italien, die die Freie Arbeit neben den Lehrgangsunterricht setzte, und jahrgangsübergreifende Lerngruppen schuf,
- Célestin Freinet aus Frankreich, der ebenfalls Freiarbeit als zentrale Methode einführte,
- Helen Parkhurst aus den Vereinigten Staaten, die Wochen- und sogar Monatspläne für ihre Schüler ausarbeitete,
- Peter Petersen aus Jena, der jahrgangsübergreifende Lerngruppen einrichtete, die soziales Lernen begünstigen sollten,
- John Dewey aus den USA, der die Projektidee mit Handlungs-, Anwendungs- und Situationsorientierung für den Unterricht fruchtbar machte,
und viele mehr.
Allen gemeinsam ist das Ziel, die Selbsttätigkeit und die Selbständigkeit der Schüler zu fördern. Es geht um eine neue Sicht des Kindes. Das Kind selbst, seine Entwicklung und seine Förderung werden zum zentralen Kriterium für Schule und Unterricht. Das „Jahrhundert des Kindes“ gewinnt hier Konturen.
In der Zeit der Weimarer Republik entfalteten sich diese Konzepte in deutschen Schulen in unterschiedlichster Weise. Hiervon profitierte auch die Lehrerausbildung. Nun wurden unter anderem in Preußen aus den Lehrerseminaren, die eher Unterrichtstechniken vermittelten, auf ganzheitliche Lehrerbildung angelegte Pädagogische Akademien. In diese fanden die neuen Ideen Eingang, über sie fanden sie Eingang auch in die Schulen, die sich selbst nicht als Reformschulen, sondern als Regelschulen verstanden, wenngleich in einem vergleichsweise eher geringen Ausmaß. [5]
Das gute Image der Reformpädagogik hat in letzter Zeit einige Kratzer bekommen; man muss sich nicht nur auf die Odenwaldschule beziehen, deren „Familien“-System den sexuellen Missbrauch von Schülerinnen und Schülern wohl gefördert hat; nein, auch Ikonen wie Maria Montessori und Peter Petersen haben Federn lassen müssen; zumindest zeitweise hatten sie eine gewisse Nähe zu den Faschisten in Italien bzw. den Nazis in Deutschland. Andererseits sind Montessorischulen wie auch mehrere nach dem Konzept Petersens arbeitende Schulen nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland verboten worden.
Die Ideen der beiden hören sich auch heute ganz aktuell an: Individuelle Förderung, vorbereitete Umgebung, Erziehung zur Gemeinschaft, altersgemischte Gruppen, innere Differenzierung – und das alles über Jahre und Jahrzehnte erprobt und erfolgreich realisiert, trotzdem an manchen Stellen noch richtige Aufreger.
IV. Die Geburt der Grundschule
Mit der Weimarer Verfassung entsteht 1919 die Grundschule.
Artikel 146: „ Auf einer für alle gemeinsamen Grundschule baut sich das mittlere und höhere Schulwesen auf.“ Eine für alle gemeinsame Grundschule bedeutete: Alle Kinder mussten die gemeinsame Grundschule besuchen, es gab keinen Privatlehrer, keine Prinzenerziehung mehr. Alle Kinder aus allen Ständen und Schichten mussten sich einreihen. Das bedeutete, dass die Schule nunmehr den Stempel des neuen Gesellschaftsbildes erhielt. Das „Reichsgrundschulgesetz“ von 1920 legte die Dauer auf vier Jahre fest; eine Fixierung, die immer wieder aufgeweicht wurde, in Hamburg versucht man es nicht zum ersten Mal, eine sechsjährige Grundschule zu etablieren, in Berlin und Brandenburg gibt es sie seit langem. Organisatorisch war die Grundschule Teil der Volksschule. Um Form, Organisation, Dauer und sogar Umsetzung gesetzlicher Vorgaben wird in der Zeit der Weimarer Republik gestritten.
V. Die Zeit des Nationalsozialismus
Die Entwicklung und Umsetzung der reformpädagogischen Ideen wurde selbstverständlich in der Zeit des Nationalsozialismus unterbrochen, zu einem großen Teil auch abgebrochen. Die Vielfalt war nicht das Ziel der Machthaber, vielmehr die Gleichschaltung. So wurden viele dieser Schulen geschlossen oder verboten, manche der Initiatoren verloren ihr Leben: Adolf Reichwein, der zunächst Professor an einer Pädagogischen Akademie war, 1933 entlassen wurde und als Lehrer einer einklassigen Landschule reformpädagogische Ideen im Sinne der Arbeitsschule entwickelte und erprobte, wurde 1944 in Plötzensee hingerichtet, Janusz Korczak begleitete seine jüdischen Schüler bis in die Gaskammer, obwohl man ihm die Möglichkeit einer Rettung offengehalten hatte.
Das perfide System instrumentalisierte Schule und Unterricht in menschenverachtender Weise.
Einige Rechenaufgaben aus dem Handbuch für Lehrer 1935:
Aufgabe 95:
Der Bau einer Irrenanstalt erfordert 6 Millionen RM. Wie viele Siedlungen zu je 15 000 RM hätte man dafür bauen können?
Aufgabe 97:
Ein Geisteskranker kostet täglich etwa 4 RM, ein Krüppel 5,50 RM, ein Verbrecher 3,50 RM. In vielen Fällen hat ein Beamter täglich nur etwa 4 RM, ein Angestellter kaum 3,50 RM, ein ungelernter Arbeiter noch keine 2 RM auf den Kopf der Familie.
- a) Stelle diese Zahlen bildlich dar.
Nach vorsichtigen Schätzungen sind in Deutschland 300 000 Geisteskranke, Epileptiker usw. in Anstaltspflege
- b) Was kosten diese jährlich insgesamt bei einem Satz von 4 RM?
- c) Wieviel Ehestandsdarlehen zu je 1000 RM könnten – unter Verzicht auf spätere Rückzahlung – von diesem Geld jährlich ausgegeben werden?
Aufgabe 109
- b) Zeichne in einen gegebenen Kreis mit 8 cm Durchmesser ein Hakenkreuz (HJ-Abzeichen), dessen Balken ebenso wie die weißen Zwischenräume je 1 cm breit sind.[6]
In der Literatur und in alten Schulbüchern findet man nicht nur singuläre Beispiele für das menschenverachtende System, das alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang, so auch die Schule. Wer meint, Unterricht in einem Fach wie Mathematik sei wertfrei, wird hier eines Besseren belehrt. Unterricht ist immer auch „erziehender Unterricht“. Das war offenbar auch den Schulbuchverlagen bewusst. Auf dem „Rechenbuch für Westfalen“ „Rote Erde“ stand der Knittelvers: „An deutscher Volkwerdung schafft – auch die Zahl mit ihrer beweisenden Kraft“.
Andere Fächer wurden ebenfalls für die Ideologie eingesetzt: „Leibesübungen“ nahmen an Bedeutung zu, in der Biologie war die „Rasse“ ein beherrschendes Thema usw.
In der Weimarer Republik war das Schulsystem, und das betraf vor allem die Volksschulen, länderspezifisch heterogen verfasst. Ab 1934 schon übernahm allerdings das Reichsinnenministerium Teile der Schulhoheit der Länder und begann mit einer Zentralisierung und Vereinheitlichung des Schulwesens. Rasch wurde diese Entwicklung 1934 mit der Errichtung des Reichserziehungsministeriums vorangetrieben. Die erste Phase der nationalsozialistischen Schulpolitik von 1933 bis 1936 galt in erster Linie der Machtkonsolidierung und der „Gleichschaltung“ des Lehrkörpers. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 schufen die Nationalsozialisten eine juristische Basis zur Entlassung von jüdischen, sozialistischen und pazifistischen Lehrern und Schulleitern. Wenig später wurde mit dem am 25. April 1933 erlassenen „Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen” die „Rassenzugehörigkeit“ als Kriterium für den Zugang zu höheren Schulen und zum Hochschulstudium eingeführt. Ab 1937 formte das Regime das System der Oberschule um, verkürzte die Zeit bis zum Abitur auf 12 Schuljahre, schaffte die Koedukation von Jungen und Mädchen weitgehend ab und entwissenschaftlichte die Lehrerbildung. Ebenfalls ab 1937 wurden konfessionelle Schulen entgegen dem Reichskonkordat geschlossen. Hitlergruß und Fahnenappell wurden verpflichtend.
Selbstverständlich war die Pankratiusschule nicht von dieser Entwicklung ausgenommen. Sie wurde – wie Sie wissen – während des Dritten Reiches in „Hindenburgschule“ umbenannt. Manche Zeitzeugen, d. h. ältere Kollegen, haben uns Jüngeren die eine oder andere Begebenheit aus dieser schwierigen Zeit berichten können.
VI. Die Nachkriegszeit
Nach dem Krieg begriffen die Alliierten die Schule als ein wesentliches Element der gesellschaftlichen und demokratischen Erneuerung. Sie erließen die berühmte Kontrollratsdirektive Nr. 54: Lernmittelfreiheit, Bildungsgerechtigkeit, demokratische Erziehungsziele und entsprechende Arbeitsmittel, Lehrerausbildung auf Universitätsniveau, Abschaffung des horizontal gegliederten Schulwesens, Mitwirkung der Bürger an der Reform und der Gestaltung des Schulwesens waren wesentliche Auflagen der Alliierten. Bereits in Potsdam hatte man sich auf die Entnazifizierung des Lehrpersonals geeinigt. Diese wurde – wie in anderen Bereichen auch – nicht immer strikt durchgeführt.
Die neugebildete Kultusministerkonferenz einigte sich entgegen dieser Direktive allerdings auf die Wiedereinführung des dreigliedrigen Schulsystems. Andere Vorgaben hatten jedoch Bestand: Die Lehrer wurden wieder an Pädagogischen Akademien ausgebildet, die 1962 in Pädagogische Hochschulen umbenannt wurden. Die Regelstudienzeit wurde von vier auf sechs Semester erhöht. Die Volksschullehrer wurden übrigens konfessionell getrennt ausgebildet. In Münster gab es die Pädagogische Hochschule Münster I (katholisch) und Münster II (evangelisch). Als ich 1965/1966 stellvertretender ASTA-Vorsitzender war (Münster I) und zusammen mit dem Finanzreferenten Günter Rölfing, später Rektor in Ahaus-Wüllen, einen Vorschlag zur Zusammenlegung entwickelte, wurde eine Konferenz der Professoren und Dozenten einberufen und Günter und ich mussten antreten und den Unmut der Konferenz entgegennehmen. Grund für die konfessionelle Ausrichtung der Lehrerbildung war natürlich die Konfessionalität der Volksschulen, die nach dem Ende des Dritten Reiches in Nordrhein-Westfalen und einigen anderen Ländern wieder eingeführt worden war. Beides hatte übrigens Verfassungsrang.
Wir waren unserer Zeit übrigens nur wenig voraus: 1969 wurden die Pädagogischen Hochschulen entkonfessionalisiert.
Öffentliche Bekenntnisschulen gab es übrigens schon in Preußen; in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Schulaufsicht noch von Geistlichen ausgeführt. Bismarck passte das nicht:
„… wenn dies so weitergeht wie jetzt, namentlich in den Schulen Posens, dann werden die Rekruten dem Papste bald mehr gehorchen wie dem König.“[7]
Schon 1948 erließ das Kultusministerium von NRW „Richtlinien und Pläne für den Unterricht in der Volksschule“, 1955 wurden sie als „Richtlinien für die Volksschulen des Landes Nordrhein-Westfalen“ neugefasst und galten bis zur Schulreform 1968. Diese Richtlinien und die zugehörigen Pläne passten in ein einziges, noch nicht einmal umfangreiches Büchlein. Für manche Fächer gab es nur einige wenige Seiten Text, „Raumlehre“, wir würden heute sagen „Geometrie“, kam mit einer halben Seite aus. Die „Gemeinschaftskunde“ als politische Bildung wurde dagegen über mehrere Seiten relativ umfangreich dargestellt, sicher ein Reflex auf die bitteren Erfahrungen des Dritten Reiches. Heute haben die Pläne eines Faches den Umfang, der seinerzeit für alle Fächer reichte. Welches Bild von Schule, Menschen und Gesellschaft hierin vorherrschte, mag ein Blick auf die zu unterrichtenden Fächer lehren: „Leibeserziehung“ statt „Sport“, „Rechnen“ und „Raumlehre“ statt „Mathematik“, „Lebenspraktischer Unterricht für Mädchen“ statt – ja, statt was? Darin war zum Beispiel die „Nadelarbeit“ enthalten, heute wohl „Textiles Gestalten“. In meiner Zeit an der Pädagogischen Hochschule mussten Studentinnen Veranstaltungen zur Nadelarbeit und zur Hauswirtschaft belegen, Studenten nicht; das war noch weit vor Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes. – Das Land Nordrhein-Westfalen gab übrigens damals wie heute dem Bildungs- und Erziehungswesen des Landes etwas ganz Besonderes vor: „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.“ Wenn ich das in der Universität den Lehramtsstudenten erzählt habe, kamen die erst einmal ins Grübeln; das hatten sie bei ihrer Berufswahl nicht bedacht.
Die Fachlichkeit spielte keine große Rolle, in der Volksschule herrschte das Klassenlehrerprinzip – mit Folgen für die Lehrerbildung: Das Kennzeichen des Volksschullehrers war, von allem etwas zu wissen, quasi eine fundierte Halbbildung zu besitzen. In meinem ersten Semester galt noch eine Ausbildungsordnung, nach der in allen Fächern zumindest sogenannte „Teilnahmescheine“ zu erwerben waren. Das änderte sich bald zugunsten einer Schwerpunktbildung – Gott sei Dank! Den Vorteil des Klassenlehrerprinzips darf man jedoch nicht übersehen: Es entsteht eine enge Bindung zwischen den Schülern und ihrem Lehrer, ihrer Lehrerin. Während der Fachlehrer für Erkunde und Sport an größeren Schulen locker im Laufe einer Woche auf mehrere hundert Kinder trifft, und umgekehrt die Kinder auf 15 verschiedene Lehrer, kennt man seinen Klassenlehrer und der seine Kinder intensiv. Umgekehrt – wenn die „Chemie nicht stimmt“, kann ein Schuljahr für beide Seiten lang werden.
In den Schulen und unter den Eltern gab es in den späten 50-er und den 60-er Jahren um ein Thema viel Aufregung und jede Menge Gesprächsstoff: Die Ganzheitsmethode beim Erlernen des Lesens und des Schreibens. Sie hat sich letztlich nicht durchgesetzt, aber die didaktische Diskussion auf Dauer befruchtet.
VII. Die Schulreform von 1968
1964 rief Georg Picht die „Bildungskatastrophe“ aus. Er, wie auch andere, suchte nachzuweisen, dass die Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Industriestaaten einen großen Nachholbedarf habe: Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Mittlerer Reife oder Abitur und der Studierenden an den einzelnen Jahrgängen sei zu gering, die Schulzeit zu kurz, die Ausstattung der Schulgebäude und Schulräume dürftig, die Durchschnittsgröße der Schulklassen und die Anzahl der Schülerinnen und Schüler pro Lehrkraft zu hoch. Sie sagten einen Mangel an qualifiziertem Nachwuchs voraus und forderten eine Ausweitung und Reform des Bildungswesens. Andernfalls würde die deutsche Wirtschaft den Anschluss an die internationale Entwicklung verlieren; die Bildungskatastrophe würde in eine Wirtschaftskatastrophe einmünden.
Ein anderes Motiv für durchgreifende Reformen des Bildungswesens brachte Ralf Dahrendorf 1965 auf den Begriff, als er Bildung als „allgemeines Bürgerrecht“ definierte und seine Verwirklichung forderte. Ausgangspunkt war damals vor allem der geringe Anteil von Arbeiterkindern unter den Schülerinnen und Schülern der weiterführenden Schulen und unter den Studierenden, aber auch das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land, zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Nord- und Süddeutschland. Berühmt wurde das „katholische Mädchen vom Lande“ als Protagonistin der Ungleichheit. Gefordert wurde Chancengleichheit im Bildungswesen: Ungeachtet ihrer sozialen Herkunft sollten alle Bürger die gleichen Chancen zu einer qualifizierten Ausbildung und Bildung haben. Dahinter stand die Überzeugung, dass in modernen Gesellschaften der Status des einzelnen immer stärker von der Ausbildung bestimmt wird und dass Bildung und Ausbildung Lebenschancen erschließen, aber auch abschneiden können. Einer Bildungspolitik in diesem Sinne ging es nicht mehr nur um die bloße Steigerung der Effizienz des bestehenden Bildungssystems, sondern auch um Gesellschaftsreform. Daraus erklärt sich auch die Heftigkeit der Auseinandersetzungen um einzelne bildungspolitische Maßnahmen in den sechziger und siebziger Jahren.
1960 betrug der Anteil der Abiturienten an gleichaltrigen Jugendlichen übrigens nur 6 %, 1965 dann 7,5 %, in der Volksschuloberstufe waren Mitte der sechziger Jahre 70 % eines Geburtsjahrgangs.[8]
In den sechziger Jahren einigten sich die Kultusminister der Bundesrepublik auf einige Reformziele, zum Beispiel die Einführung einer „Hauptschule“ mit neun Schuljahren und Englisch als Fremdsprache ab Klasse 5. Die Hauptschule wurde in die Kategorie „weiterführende Schule“ eingereiht. Die 9. Klasse wurde in den Folgejahren eingeführt, mit der Konsequenz, dass sich der ohnehin bestehende Lehrermangel verschärfte. Dieser war an Volksschulen besonders ausgeprägt, da der Beruf des Volksschullehrers ein schlechtes Image hatte, zudem war die Besoldung weit von der anderer Lehrergruppen entfernt. Die Folge dieses Lehrermangels war zum Beispiel, dass meine Einberufung als Panzergrenadier nach Alt-Ahlen Makulatur war: Der Regierungspräsident hatte an das Kreiswehrersatzamt den Antrag gestellt, mich „unabkömmlich“ zu stellen – weil mit mir 50 % der Lehrkräfte von Beerlage-Temming verschwunden wären. Verschärft wurde die Situation durch die Umstellung des Schuljahresbeginns von Ostern auf den Herbst. Die Einführung der Kurzschuljahre 1966/67 verschärfte die Lage noch, wurden durch sie doch temporär mehr Klassen gebildet. Man brauchte Volksschullehrer, und schon in der ersten Hälfte der sechziger Jahre arbeitete man auf verschiedenen Ebenen an der Lösung: Besoldungsverbessererung, Werbemaßnahmen in den Gymnasien, Broschüren der Schulträger, günstige Baugrundstücke etc., aber auch Ausbildung von „Mikätzchen“ in Crash-Kursen; lebensältere Bewerberinnen ohne Lehrerausbildung, nach dem damaligen Kultusminister Paul Mikat so benannt.
In der Pankratiusschule gab es 1968 in der Folge der Anstrengungen der Landesregierung daher eine große Zahl der „Junglehrer“ zwischen Erster und Zweiter Staatsprüfung: Hannelore Becht (später Könning), Klaus Becker, Günter Hillebrand, Herbert Krechting, Klemens Lembeck, Irene Neumann, Hermann Vortmann – diese fallen mir auf Anhieb ein. Ab 1968 wurde das System der „Junglehrer“ abgeschafft; während wir nach der Ersten Staatsprüfung voll verantwortlich und in vollem Umfang unterrichteten – angeleitet durch Mentoren und die Junglehrer-AG – wurden die künftigen Grund- und Hauptschullehrer an Bezirksseminaren im Rahmen eines „Vorbereitungsdienstes“ auf die Zweite Staatsprüfung vorbereitet.
1968 und in den Folgejahren war der Umbruch gewaltig: Die Landesverfassung wurde geändert, die Volksschule inhaltlich und organisatorisch in Grundschule und Hauptschule zerlegt – auch in Gescher, hier aber erst 1969, weil die neue Schule am Borkener Damm noch nicht fertig war. In dem Schuljahr 1968/69 lud uns Herr Marx regelmäßig zu Dienstbesprechungen und Konferenzen über die neuen Schulformen, über neue Sicht von Fächern, von Zielen, von Aufgaben, von Leistungsbeurteilung, über Lehrplanentwürfe und noch viel mehr. Die Entwicklung zweier Schulformen musste nun ins Auge gefasst werden, Grundschule und Hauptschule. Es war viel zu tun, erst recht für uns Junglehrer, die jede Stunde schriftlich vorbereiten mussten, wenigstens 30 in der Woche.
Herrn Marx folgte nach seinem Weggang an die Hauptschule seine Konrektorin Anneliese Kernebeck als Leiterin der Pankratiusschule.
Lehrer kamen aus den zu schließenden Bauerschaftschulen an die innerstädtischen Schulen, z. B. Frau Kreienborg (später Winking) aus Estern an die Pankratiusschule, hier wurde sie für zwei Monate bis zu meiner Zweiten Staatsprüfung meine Mentorin. Die „Zwergschulen“ wurden für nicht leistungsfähig gehalten, obwohl um 1960 noch 50 % aller Volksschulen im Bundesdurchschnitt in diese Kategorie fielen.
Natürlich geht es in der Pädagogik vornehmlich um Ziele und Inhalte; also gab es neue Richtlinien, für die Hauptschule in blau (das „blaue Wunder“) und für die Grundschule in grün (die „Hoffnung“) gebunden. Schauen wir die Vorgaben für die Grundschule noch einmal an: Fachlichkeit wurde nun groß geschrieben; statt „Heimatkunde“ gab es „Sachunterricht“, statt „Rechnen“ „Mathematik“, statt „Leibesübungen“ „Sport“ – und auch Jungen mussten nun mit textilen Materialien arbeiten. In der Mathematikdidaktik gab es in der Folgezeit große Aufregung um die sogenannte „Neue Mathematik“ mit Mengenlehre, Logik und verwandten Themen, im Sachunterricht traf man Fachanteile aus der Biologie, der Physik, der Geschichte usw. Zielsetzung war durchaus eine Art früher Wissenschaftspropädeutik in einem verkürzt verstandenen Sinne der „Wissenschaftsorientierung“, die der Deutsche Bildungsrat in seinem Strukturplan 1970 gefordert hatte. Der Gesamtunterricht früherer Jahre musste der Fach- und Wissenschaftsorientierung ebenso weichen wie das Konzept der „volkstümlichen“ Bildung. Wilhelm Wittenbruch spricht von einem Wechsel von der „kindzentrierten“ zu einer „kultur- bzw. gesellschaftszentrierten“ Erziehung.[9]
Die erste Fassung der Grundschulrichtlinien und -lehrpläne wurde bald – 1973 – überarbeitet, ohne sie in ihrem grundlegenden Konzept nennenswert zu verändern. Diese zweite Fassung überdauerte die Zeit bis 1985.
VIII. „Auf der Suche nach der pädagogischen Gestalt“[10]: Grundschul-Revision 1985
Die Pädagogischen Hochschulen waren bereits seit 1964 Wissenschaftliche Hochschulen, erhielten bald darauf das Habilitationsrecht, das Promotionsrecht und die Möglichkeit der Ausbildung von Diplom-Pädagogen. 1980 fusionierten sie in Nordrhein-Westfalen mit den Universitäten, ab dann fand die Ausbildung der Grundschullehrer in NRW also an den Universitäten statt. In Frankfurt gab es den führenden „Arbeitskreis Grundschule“ mit den renommierten Pädagogen Jakob Muth und Erwin Schwarz, die großen Einfluss auf die schulfachliche Diskussion hatten, wenngleich man aus heutiger Sicht sagen muss, dass auch der wissenschaftsorientierte Irrweg von und nach 1969 ihnen und ihrem Grundschulkongress von 1969 zuzurechnen ist.
Die Entwicklung in den siebziger und achtziger Jahren bis zu den Richtlinien von 1985 nahm eine pädagogische Wende. Man knüpfte wieder an reformpädagogische Ideen und Konzepte an, ohne sie unkritisch zu übernehmen. Das Schulleben trat wieder in den Horizont. Kindliche Bedürfnisse nach Liebe und Sicherheit, nach Anerkennung, Lob und Verantwortung wurden gesehen.[11]
Die im März 1981 mit dem Soester Grundschulsymposion durch den Kultusminister in NRW eingeleitete Revision der Grundschulrichtlinien nahm von Anfang an die in den Schulen bestehenden und erprobten Ansätze auf. So ersparte man dieser Reform den Charakter des „top down“. Praxis und interessierte Öffentlichkeit wurden in das Verfahren der „offenen Lehrplanarbeit“ einbezogen.
Die Konzepte der 1985 erlassenen Richtlinien enthielten
- generell eine Hinwendung zum Kind,
- ein Konzept „grundlegender Bildung“,
- einen pädagogischen Leistungsbegriff,
- eine Wiederbelebung des Begriffs Schulprogramm,
- Hinweise zum Schulleben und
- eine Rückbesinnung auf die erziehende Funktion der Schule, u. a. ausgedrückt durch den „erziehenden Unterricht“.
Diese Richtlinien wurden in den Schulen und in der Fachwelt mit Anerkennung aufgenommen, wenn sie auch das Schicksal vieler Reformen teilten: Ihre Umsetzung dauerte lange, Schule entwickelt sich eben langsam. Zum Teil politisch motivierte Kritik gab es auch: Manch einer sprach angesichts der kindgemäßen Gestaltung von Räumen und Schulhöfen, auch angesichts des pädagogischen Leistungsbegriffs von „Kuschelpädagogik“. Meine Meinung ist, dass sich die Grundschule mit dieser pädagogischen Weiterentwicklung an die Spitze der Entwicklung des deutschen Schulwesens gesetzt hat. Methodisch, didaktisch und pädagogisch waren die Konzepte der Primarstufe wegweisend, andere Schulformen folgten Jahre später.
IX. Die vorläufig letzte Phase der Grundschulentwicklung in Nordrhein-Westfalen
2001 wurde der Startschuss gegeben zur Entwicklung neuer Richtlinien und Lehrpläne. Von 2004 bis 2007 wurden sie in den Schulen erprobt, eine Lektion, die man 1985 gelernt hat. Zum 1. August 2008 traten sie in Kraft.
Im Laufe der Revision mussten verschiedene Entwicklungen berücksichtigt werden: Nach dem PISA-Schock ging es um Qualitätssicherung und -entwicklung. Die Vereinbarungen der KMK über Bildungsstandards, Kernlehrpläne und Vergleichsarbeiten (VERA) waren nun umzusetzen. Im Anschluss an die PISA-Tests und die ihnen zugrunde liegenden Konzepte ist nun auch von „Kompetenzen“ und „Kompetenzorientierung“ die Rede. Die Lehrpläne sind als „Kernlehrpläne“ erstellt, die sich im Anschluss an die Bildungsstandards, die Ende der vierten Klasse erreicht werden sollen, auf die Beschreibung erwarteter Ergebnisse beziehen. Man spricht daher jetzt von einer „Output-Orientierung“ der Lehrpläne.
Im Lehrplan Deutsch heißt es dazu:
„Der Lehrplan für das Fach Deutsch benennt in Kapitel 2 verbindliche Kompetenzbereiche und Schwerpunkte und ordnet ihnen in Kapitel 3 Kompetenzerwartungen zu.
Diese legen auf der Ebene der Sach- und Methodenkompetenz verbindlich fest, welche Leistungen von den Schülerinnen und Schülern am Ende der Schuleingangsphase und am Ende der Klasse 4 im Fach Deutsch erwartet werden. Sie weisen die anzustrebenden Ziele aus und geben Orientierung für die individuelle Förderung. Die Kompetenzerwartungen konzentrieren sich auf zentrale fachliche Zielsetzungen des Deutschunterrichts.
Diese Orientierung an Kompetenzen bedeutet, dass der Blick auf die Lernergebnisse gelenkt, das Lernen auf die Bewältigung von Anforderungen ausgerichtet und als kumulativer Prozess organisiert wird.“
Der Fachaspekt tritt wieder mehr in den Vordergrund. Die Orientierung an Ergebnissen, an Leistung, ist kennzeichnend für die PISA-Ära, sie bedeutet gleichzeitig aber auch, dass der Weg zu diesen Ergebnissen eher in der Entscheidung der Schule liegt. Kernlehrpläne entsprechen daher durchaus dem Ansatz der „Selbständigen Schule“.
So wichtig es ist, sich zu vergewissern, ob und wieweit die angestrebten Ziele erreicht sind: Es kann nicht sein, dass das Messinstrument, also der PISA-Test, das pädagogische Konzept definiert; nicht der Test darf das Ziel vorgeben, sondern umgekehrt: Das pädagogische Ziel bestimmt die Gestalt des Tests. Die OECD, die PISA veranstaltet und verantwortet, ist keine pädagogische Instanz, sondern eine wirtschaftliche.
Ich denke, jetzt – zehn Jahre nach dem ersten PISA-Schock – hat sich die Hysterie gelegt, Schleswig-Holstein schafft die Schulinspektion schon wieder ab. – Im Übrigen gilt die alte Bauernweisheit: „Vom Wiegen wird die Sau nicht fett.“
X. Resümee
- Die Grundschule hat sich im „Jahrhundert des Kindes“ nicht ohne Brüche entwickelt. Es gab erhebliche Eingriffe durch die Politik zu ihren Gunsten – Weimarer Verfassung – wie zu ihrem Nachteil – Drittes Reich.
- Die Entwicklung pendelte durchaus zwischen Orientierung am Kind und seinen Bedürfnissen einerseits und der Kultur- und Gesellschaftszentrierung andererseits.
- Dem entspricht auch die größere oder geringere Nähe zu einem eher fachlich verstandenen Unterricht bis hin zum Irrweg der Wissenschaftspropädeutik einerseits, zu einem situationsorientierten fächerübergreifenden Gesamtunterricht andererseits.
- Die Reformpädagogische Bewegung hat sich – bei aller notwendigen Kritik – ebenso wie die Pädagogik als Wissenschaft bleibende Verdienste erworben, indem sie die eigenen Rechte des Kindes sah und seine schöpferischen Kräfte über Selbsttätigkeit und Selbstständigkeit für die Erziehung zum mündigen Menschen nutzte. Schule konnte so den Auftrag, Kinder für und auf die existierende Gesellschaft vorzubereiten, erweitern zum Spagat: Kinder sollten als später mündige Bürger die Gesellschaft auch verantwortlich gestalten und damit verändern können.[12]
- Zu einer guten Grundschule gehört eine gute Ausbildung der Lehrkräfte. Sie sind das wichtigste Potential für eine gute und leistungsfähige Schule; dagegen sind Fragen der Schulstruktur – längeres gemeinsames Lernen zum Beispiel oder Beibehaltung der Dreigliedrigkeit, die in Nordrhein-Westfalen ohnehin eine Viergliedrigkeit ist – weitgehend nebensächlich. Die Entwicklung der Ausbildung der Volksschullehrer im letzten Jahrhundert hat wesentlich mit dazu beigetragen, dass Grund- und Hauptschulen an der Spitze der schulpädagogischen Entwicklung stehen.
- Lehrer haben verstanden, dass sie zwar ihr Gehalt vom Staat bekommen und deshalb Sachwalter des Staates gegenüber ihren Schülern sind; sie wissen aber andererseits, dass sie auch Sachwalter der Kinder gegenüber dem Staat sind. Diese Antinomie ist nicht immer leicht auszuhalten.[13] – Möge die Lösung dieser Aufgabe den Lehrerinnen der Pankratiusschule und allen, die in ihr arbeiten, lehren und lernen, immer gelingen.
Der Pankratiusschule alles Gute zum hundertsten Geburtstag – und weiterhin viel Erfolg im Sinne der Kinder, die hier lernen und leben dürfen.
[1] Ellen Key: „Das Jahrhundert des Kindes“; Buchveröffentlichung 1902
[2] Herrlitz/Hopf/Titze: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Athenäum Verlag. S. 100
[3] Wegener 1910. S. 4, zitiert nach Heinken, Ilse: 4. Das Schulsystem im Kaiserreich. http://oops.uni-oldenburg.de/volltexte/2000/618/pdf/heinken.pdf (21.05.2010)
[4] Herman Nohl: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. Verlag G. Schulte-Blumke 1963 6. Aufl. S. 9
[5] vgl. Wittenbruch, Wilhelm: Sieben Jahrzehnte deutsche Grundschule – „Lernbare Lektionen“ aus der Schulgeschichte? In: Wittenbruch, Wilhelm (Hrsg.): Grundschule. Texte und Bilder zur Geschichte einer jungen Schulstufe. Agentur Dieck, Heinsberg 1994. S. 20
[6] Harald Focke, Uwe Reimer: Alltag unterm Hakenkreuz. Reinbek 1979. S. 88f
[7] vgl. den Nachweis des Zitats bei Reichle, W.: Zwischen Staat und Kirche. Das Leben und Wirken des preußischen Kultusministers H. von Mühler. Berlin 1938, hier übernommen von Nevermann, Knut: Der Schulleiter. Juristische und historische Aspekte zum Verhältnis von Bürokratie und Pädagogik. Klett-Cotta 1982. S. 74
[8] vgl. Horney, Walter et al. (Hrsg.): Handbuch für Lehrer. Bd. I. Bertelsmann 1966. S. 565; vgl. ebenfalls Kraus, Michael: Chronik der Bildungspolitik. http://michael-kraus.info/ew/bildungspolitik.shtml (21.05.2010)
[9] Wittenbruch: a. a. O., S. 36
[10] Wittenbruch: a. a. O., S. 33
[11] Wittenbruch: a. a. O., S. 36
[12] vgl. Vortmann, Hermann: Sekundarstufe I. Eine vielgestaltige Schulstufe für einzigartige Schülerinnen und Schüler. Agentur Dieck, Heinsberg 1997. S. 10 f
[13] ebenda. S. 10 f