Die jahrzehntelang verhärteten Fronten in der Diskussion um Schulstrukturen der Sekundarstufe I sind endgültig aufgebrochen. Die Namensvielfalt in den verschiedenen Bundesländern, die Komplexität und Verschachtelung der Bildungsgänge wirkt auf den Betrachter häufig unübersichtlich; nur in wenigen Bundesländern ist die Sache so einfach wie im Saarland oder in Hamburg mit nur je zwei Schulformen.
Während die Diskussion um die Grundschule nur wenige Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Verfassung 1919 für lange Zeit ein Ende fand, ist der Streit um die „richtige“ Schulform in der Sekundarstufe I nie wirklich entschieden worden. Die quälenden Auseinandersetzungen in den westlichen Bundesländern um die Gesamtschule seit den siebziger Jahren, der Streit um längeres gemeinsames Lernen (bis hin zum Volksbegehren) am Beispiel der „Kooperativen Schule“ in Nordrhein-Westfalen 1978, vor etwa sieben Jahren auch noch um die Klassen 5 und 6 im Rahmen der Primarschuldiskussion in Hamburg – alle Konflikte wurden überwiegend entlang parteipolitischer Grenzen geführt, während die Schulpädagogen an den Hochschulen die Bedeutung der Schulform für guten Unterricht eher als begrenzt einstuften.
Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA 2000 wurde in der politischen Diskussion der Ruf laut, jetzt keinesfalls den Streit um Schulstrukturen wieder aufleben zu lassen. Dennoch: Nie seit dem Zweiten Weltkrieg änderten Bundesländer ihre Strukturen in der Sekundarstufe I derart rasch und umfassend wie in den vergangenen fünfzehn Jahren.
Schulstrukturdiskussion stellvertretend für Auseinandersetzungen um das jeweilige Gesellschaftsbild
Schon die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und die Aufhebung der Vorschulen[1] in der Verfassung der Weimarer Republik war keine Entscheidung über die Effizienz der Schulstruktur, sondern dem gesellschaftlichen Wandel geschuldet: Nach dem Ende des Kaiserreichs mussten alle Kinder in die allgemeine Schule, Hausunterricht für die Kinder adeliger oder begüterter Schichten war nicht mehr zulässig. Politisches Ziel war die Zusammenführung aller gesellschaftlichen Schichten in der für alle verpflichtenden Grundschule. Es folgten Auseinandersetzungen um die Dauer dieses gemeinsamen Lernens, wie heute auch ging es um die Alternative vier oder sechs Jahre gemeinsamer Besuch der Grundschule. Im Rahmen eines Schulgesetzes hat man sich seinerzeit für vier Jahre entschieden. Damit war die Auseinandersetzung um die Grundschule als „Einheitsschule“[2] für lange Zeit beendet. Die Zulassung von Schulen in freier Trägerschaft war damals wie heute der Pluralität der Gesellschaft geschuldet.
Vor diesem Hintergrund wäre in den letzten Jahrzehnten eine Diskussion um das jeweilige Gesellschaftsbild – vielleicht auch Menschenbild – aufrichtiger gewesen als die Argumentation für die jeweils bessere (in PISA-Zeiten: effektivere) Schulform.
Seit einer Reihe von Jahren rückt ein Aspekt des gemeinsamen Lernens immer mehr in den Vordergrund: Die Kinder mit Behinderungen und ihre Eltern verlangen verstärkt nach einer Beschulung in der Regelschule, nicht in einer Sonder- oder Förderschule. Mit Formen des „gemeinsamen Unterrichts“ und mit „Integrationsklassen“ gaben etliche Landesregierungen dem Verlangen nach. Die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland macht eine Verstärkung dieser Bemühungen notwendig, bis hin zu der Möglichkeit für jedes behinderte Kind, eine Regelklasse – zielgleich oder zieldifferent – besuchen zu können.[3]
Die Basis für schulorganisatorische Entscheidungen ändert sich.
Bereits kurz nach der Wiedervereinigung 1990 änderte sich das Bild, das die Diskutanten in den alten Bundesländern abgegeben hatten: Vor der Wende hatte es in der früheren DDR ein Schulwesen gegeben, das in seiner Struktur weit weniger aufgefächert war als in der Bundesrepublik üblich; so war es nur folgerichtig, dass bis auf eine Ausnahme (Mecklenburg-Vorpommern) das Schulwesen in den neuen Ländern nach 1990 auf die Dreigliedrigkeit in der Sekundarstufe I verzichtete – unabhängig von der Partei, die die Landesregierung stellte. Ein Erfolgsmodell wurde zum Beispiel – auch nach PISA-Kriterien – die „Mittelschule“ in Sachsen als einziger Schulform neben dem Gymnasium. Angesichts der Tatsache, dass in Sachsen und nicht nur dort die CDU Regierungspartei war und ist, verwundert, dass erst im Jahre 2011 in der „WELT“ zu lesen war: „Bildungsministerin Schavan erklärt, warum sich die CDU … von Haupt- und Realschule verabschiedet“[4]. Faktisch hat sie es bereits vor langer Zeit getan, auf kommunaler Ebene immer dann, wenn nur durch Gründung einer Gesamtschule die weiterführende Schule am Ort gehalten werden konnte – in Saerbeck, Olfen und Havixbeck schon in den 80-er Jahren, um nur einige Beispiele von Gemeinden aus dem Münsterland zu nennen, in denen bereits vor Jahrzehnten die Hauptschulen als einzige Schulen des Ortes nicht mehr genügend Schüler rekrutieren konnten.
Über die Erfahrungen mit den nach 1990 in Ostdeutschland eingeführten Systemen berichtet Valentin Merkelbach von der Frankfurter Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität:
Spätestens nach PISA 2003 und dem nach wie vor hohen Anteil an ‚Risikoschüler/innen‘ gerieten ostdeutsche Länder wie Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ins Blickfeld der öffentlichen Debatte. Dort gab es bald nach der Wende neben dem Gymnasium nur noch eine Schulform: die Mittelschule in Sachsen, die Sekundarschule in Sachsen-Anhalt und die Regelschule in Thüringen. In diesen Schulen mit einem Schüleranteil von plus/minus 60 Prozent fand sich ein signifikant geringerer Anteil an ‚Risikoschüler/innen‘ als dies in den Schulen der meisten alten Bundesländer der Fall war.
Offensichtlich gab es in der einzigen nichtgymnasialen Schule für Kinder, die sonst der Hauptschule zugewiesen werden, ein anregungsreicheres Lernmilieu, zumindest in den Klassen 5 und 6, in denen integrativ unterrichtet wird. Ab Klasse 7 gibt es dann auch in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wieder abschlussbezogene Haupt- und Realschulklassen.[5]
Auch in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, den beiden anderen neuen Bundesländern, gibt es jetzt keine eigenständige Hauptschule (mehr). In Brandenburg gab es nach der Wende neben Gymnasien ohnehin nur Realschulen und Integrierte Gesamtschulen. Im Jahre 2005 wurden diese dann ohne eigene Oberstufe zu „Oberschulen“, die mit Klasse 10 enden. Angestrebt wird das zweigliedrige sächsische Schulmodell. Mecklenburg-Vorpommern startete nach der Wende traditionell dreigliedrig (s. o.). Inzwischen gibt es neben Gymnasien und einigen Integrierten Gesamtschulen eine „Regionalschule“, in der Haupt- und Realschulen zusammengeführt werden, mit äußerer Fachleistungsdifferenzierung.[6]
Der Rückgang der Zahlen von Schülerinnen und Schülern im Alter von 10 bis 18 Jahren führt dazu, dass sich die Dreigliedrigkeit nur dann halten lässt, wenn man entweder kleinere Hauptschulen als bisher zulässt (mit der Folge von drastisch verringerten Angeboten der Leistungs- und Neigungsdifferenzierung) oder in Kauf nimmt, dass die Hauptschule – häufig als letzte weiterführende Schule des Ortes – schließt und auch die Hauptschüler in einer Nachbargemeinde zur Schule gehen. Dieser Abwärtstrend, den rückläufigen Kinderzahlen geschuldet, wird verstärkt durch die Abkehr der Eltern von der Hauptschule. Gab es in den 70-er Jahren durchaus Übergangsquoten von der Grund- zur Hauptschule von deutlich über 50 % eines Geburtsjahrgangs, so sind heute Quoten von mehr als 20 % Ausnahmen, von weniger als 10 % nicht selten.
Ein buntes Bild
Viele, fast alle, Bundesländer ziehen aus dieser Situation Konsequenzen. Den unterschiedlichen geografischen, soziokulturellen und historischen Gegebenheiten tragen sie dabei Rechnung. So entstehen Schulsysteme in der Sekundarstufe I, die sich zwar teils erheblich unterscheiden, andererseits aber auch in einigen Punkten gleichgerichtete Tendenzen aufweisen:
- Die neuen Strukturen sind in der Regel integrativer als die bisherigen; von der Dreigliedrigkeit (bzw. Viergliedrigkeit, wenn man die Gesamtschule mitzählt, die es in etlichen Bundesländern gibt bzw. gab) geht der Weg zur Zweigliedrigkeit. Das Gymnasium als Schulform wird auf absehbare Zeit Bestand haben. Erst recht nach dem Ausgang des Bürgerentscheids im Sommer 2010 in Hamburg wird es keine relevante politische Kraft versuchen, das Gymnasium grundsätzlich in Frage zu stellen. In mehreren Bundesländern allerdings hat man – wie in Hamburg – die Zweigliedrigkeit eingeführt, die an die Stelle von Haupt-, Real- und Gesamtschule getreten ist und eine Abituroption im Sinne des G 9 anbietet.
- Allerdings sieht man: Die Elemente des gegliederten Schulwesens bestehen in etlichen Bundesländer neben den integrativen Formen weiter, wenn auch der Name der Schulform Hauptschule schamhaft in Werkrealschule oder ähnliche geändert wird.
- Die Gesamtschule ist seit langem auf Ganztagsbetrieb eingestellt. Auch die Gemeinschaftsschule und ihre integrativen Geschwister sind in der Regel als Ganztagsschulen geplant. Eine Sondersituation gibt es in Nordrhein-Westfalen. Gleichzeitig werden auch die übrigen Schulformen der Sekundarstufe I – Realschulen und Gymnasien – bei der Einführung von Ganztagsformen unterstützt. Im Kontext der Ganztagsschule tritt der gesellschaftspolitische Aspekt besonders stark hervor: Es geht um Kompensation der häufig berufsbedingten Abwesenheit beider Elternteile, aber auch um Ausgleich von Nachteilen, die aus der sozialen Herkunft entstehen können.
- Die Gemeinden als Schulträger erhalten mehr Freiräume als früher zur Gestaltung der örtlichen Schulsituation. Dies ist bei rückläufigen Schülerzahlen besonders im ländlichen Bereich mit seinen geringeren Möglichkeiten der Umorganisation im Nahbereich erforderlich.
- Nicht nur die Gesamtschule in herkömmlicher Form, auch ihre Ableger wie Gemeinschaftsschule, Sekundarschule und etliche mehr, die wesentliche Elemente der Gesamtschule enthalten, zeigen die hohe Akzeptanz der integrativen Formen.
Übersicht (ohne Förderschulen, Stand 2017)
Bundesland | Schulformen |
Baden-Württemberg | · Hauptschule (nur Hauptschulabschluss möglich)
· Werkrealschule (i. e. Hauptschulen mit einem 10. Schuljahr; ein Werkrealschulabschluss kann als Mittlerer Bildungsabschluss erworben werden) · Gemeinschaftsschule (ggf. mit eigener gymnasialer Oberstufe) · Realschule · Gymnasium |
Bayern | · Mittelschule (quasi eine Hauptschule mit zehnter Klasse zur Mittleren Reife)[7]
· Realschule · Wirtschaftsschule (umfasst – je nach Art – die Jahrgangsstufen 7 bis 10, 8 bis 10 oder 10 bis 11. Abschluss: Mittlerer Bildungsabschluss) · Gymnasium |
Berlin | · Integrierte Sekundarschule (kann eine gymnasiale Oberstufe haben)
· Gemeinschaftsschule (grundsätzlich von der Einschulung bis zum Abitur, eventuell in Kooperation mit einer Grundschule oder einer gymnasialen Oberstufe, sofern die Gemeinschaftsschule sie nicht selbst führt) · Gymnasium[8] |
Brandenburg | · Oberschule (endet mit der 10. Klasse, zwei Abschlüsse: Erweiterte Berufsbildungsreife und Fachoberschulreife)
· (Integrierte) Gesamtschule · Gymnasium[9] |
Bremen | · Oberschule (alle allgemeinbildenden Abschlüsse einschließlich Abitur möglich)
· Werkschule (Abschluss: Erweiterte Berufsbildungsreife) · Gymnasium |
Hamburg | · Stadtteilschule (ersetzte 2009 Haupt-, Real- und Gesamtschulen) mit Abituroption nach G 9
· Gymnasium |
Hessen | · Hauptschule (Hauptschulbildungsgang)
· Realschule (Realschulbildungsgang) · Verbundene Haupt- und Realschule (Realschulbildungsgang und Hauptschulbildungsgang) · Mittelstufenschule (mit Hauptschul- und Realschulbildungsgang, Schwerpunkt Berufsvorbereitung in Kooperation mit beruflicher Schule) · (Integrierte oder kooperative) Gesamtschule · Gymnasium |
Mecklenburg-Vorpommern | · Regionalschule (ersetzt Haupt- und Realschule, mit äußerer Fachleistungsdifferenzierung)
· (Integrierte oder kooperative) Gesamtschule · Gymnasium · Schulformunabhängige Orientierungsstufe (Klasse 5/6) |
Niedersachsen | · Oberschule (Haupt- und Realschulabschluss, auch gymnasialer Zweig)
· Realschule (Haupt- und Realschulabschluss) · Hauptschule (Haupt- und Realschulabschluss) · (Integrierte oder kooperative) Gesamtschule · Gymnasium |
Nordrhein-Westfalen | · Hauptschule (Haupt- und Realschulabschluss)
· Realschule (Realschulabschluss) · Sekundarschule (Klassen 5 bis 10 in unterschiedlichen organisatorischen Modellen und in Kooperation mit einer Gymnasialen Oberstufe) · (Integrierte) Gesamtschule · Gymnasium |
Rheinland-Pfalz | · (Kooerative oder integrative) Realschule plus (Hauptschulabschluss Berufsreife und Realschulabschluss qualifizierter Sekundarabschluss I)
· (Integrierte) Gesamtschule · Gymnasium |
Saarland | · Gymnasium
· Gemeinschaftsschule (Hauptschulabschluss, Mittlerer Bildungsabschluss, Abitur) |
Sachsen | · Oberschule (bisher Mittelschule, Hauptschulabschluss und Mittlerer Bildungsabschluss)
· Gymnasium |
Sachsen-Anhalt | · Sekundarschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· Gemeinschaftsschule (alle allgemeinbildenden Abschlüsse, Abitur in Kooperation mit einer gymnasialen Oberstufe oder an schuleigener Oberstufe) · (Integrierte oder kooperative) Gesamtschule · Gymnasium |
Schleswig-Holstein | · Gymnasium
· Gemeinschaftsschule (Abitur in Kooperation mit einer gymnasialen Oberstufe oder an schuleigener Oberstufe, alle allgemeinbildenden Abschlüsse möglich) |
Thüringen | · Regelschule (ersetzt Haupt- und Realschule)
· Gymnasium · Gemeinschaftsschule (mit integriertem Unterricht ab Klasse 1 bis mindestens Klasse 8; alle allgemeinbildenden Abschlüsse möglich; gymnasiale Oberstufe ) |
Diese Tabelle ist naturgemäß für Veränderungen offen. Im Zweifel ist der aktuelle Stand auf den Websites der Bundesländer zu finden. Allmählich zeichnet sich auch immer mehr ab, wo die Rolle rückwärts zu G 9 am Gymnasium vollzogen wird; andere – integrative – Schulformen mit einer Abituroption nach 9 Jahren gibt es in fast jedem Bundesland. Angesichts dieser Vielfalt, die ja nicht nur eine Variation der Namen ist, sondern auch eine der Bildungsziele und Bildungsgänge, nicht zuletzt auch der Bildungsorganisation, ist eine Synchronisierung unerlässlich. Umzüge von einem Bundesland in ein anderen werden für Schüler immer riskanter.
Fußnoten
[1] Damit sind nicht Vorschulen im heutigen Sinne gemeint. Im deutschen Kaiserreich war eine „Vorschule“ eine Schulform, die von der 1. bis zur 3. Klasse reichte und anstelle der Grundschule besucht werden konnte; sie war damit ein Jahr kürzer als diese und bereitete aufs Gymnasium vor. Ihr Besuch kostete erhebliche Gebühren, sodass er den wohlhabenderen Bevölkerungsschichten vorbehalten war. Noch heute findet sich im Artikel 7 (6) des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland der Satz „Vorschulen bleiben aufgehoben“, der aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen wurde. Auch hier also gesellschaftspolitische Gründe für eine schulstrukturelle Regelung.
[2] Dieser Begriff wurde seinerzeit nicht abwertend gebraucht.
[3] vgl. Kapitel …
[4] „Wir tasten das Gymnasium nicht an“. DIE WELT vom 11. Juni 2011, S. 6
[5] Merkelbach, Valentin: Das Ende der Hauptschule und die Auswirkungen auf die Strukturmodelle der Länder. Februar 2011. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ (14.06.2011)
[6] vgl. ebenda
[7] Ein Drittel der etwa 1000 bayerischen Hauptschulen war um 2010 nur noch einzügig. – Vgl. Merkelbach, Valentin: Das Ende der Hauptschule und die Auswirkungen auf die Strukturmodelle der Länder. Februar 2011. http://user.uni-frankfurt.de/~merkelba/ (14.06.2011)
[8] Die Schulformen beginnen in Berlin nach einer traditionell sechsjährigen Grundschule mit der 7. Klasse.
[9] Brandenburg hat ebenfalls eine sechsjährige Grundschule.
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