„Einer der ersten Wege mit Lehrer Lohmann war ein Ausflug zu seinem Haus. Dort gab es eine Hecke aus Haselnusssträuchern, und hieraus wurde ein Stock geschnitten, der den Namen „Johann“ bekam und uns in diesem Schuljahr als Exekutor der verhängten Prügelstrafen begleitete – in aller Regel ein Schlag quer über die Finger der hinzuhaltenden Hand. Auch ich musste ihm mehrfach meine Hand entgegenstrecken. Ablenkungen, Unaufmerksamkeit, Schwätzen, keine oder zu wenige oder falsche oder fehlerhafte Hausaufgaben – alles war Grund genug für Schläge.“
Quelle: Vortmann, Hermann: Schul-Leben. Münster 2017. S. 17
Dieser Sadismus fand übrigens Mitte der fünfziger Jahre im vierten Schuljahr an zehnjährigen Kindern statt.
In den letzten Jahren drängten die Themen rund um Missbrauch und Misshandlung von Kindern und Jugendlichen innerhalb und außerhalb von Schulen an die Oberfläche. Über ähnliche Taten in Familien, im Sport, in Kinderchören und ähnlichen Einrichtungen konnte man schon einige Jahre zuvor – und immer noch wieder – hören und lesen.
Mit diesem Blogbeitrag will ich das Thema Misshandlung von Kindern durch schlagende Lehrerinnen und Lehrer in den Fokus rücken. Im Gegensatz zu anderen Vergehen und Verbrechen an Kindern waren die Prügel als Strafe für Schüler durchaus erlaubt, gesellschaftlich akzeptiert und juristisch durch Erlass geregelt. Für Prügel in der Familie erteilte das Bürgerliche Gesetzbuch übrigens ebenfalls Absolution. Und bis 1951 war es auch den Lehrherren erlaubt, ihre Lehrlinge körperlich zu strafen, wovon zum Beispiel die Firma Siemens einem WDR-Bericht zufolge regen Gebrauch machte.
Und wie war das konkret?
Immer wieder, in früheren wie in den letzten Jahren, gab es Beschwerden von Eltern und Kindern , die von prügelnden Lehrern handelten. Auch heute ist das Phänomen nicht ganz verschwunden.
Einige ganz verschiedene Situationen:
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„Der eine hatte ein abgebrochenes Stuhlbein in der Hand, der andere war nur mitgekommen. Bevor die beiden Zwölfjährigen ein Wort hervorbrachten, waren sie links und rechts geohrfeigt. Erst dann ging dem Schläger, dem Kieler Realschul-Rektor [N. N.], 55, allmählich auf, wer der Übeltäter und wer der Begleiter war.“
Quelle: DER SPIEGEL vom 10. März 1969
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„Darauf [auf ein gewohnheitsrechtliches Züchtigungsrecht] kann sich Pfarrer [N. N.], der vor etwa zwei Wochen in Langenbach einen Drittklässler an der dortigen Grundschule während des Religionsunterrichts geohrfeigt hatte, nicht berufen. Unmittelbar nach dem Unterricht hatte er den Vorfall der Schulleitung gemeldet und angekündigt, bis auf Weiteres keinen katholischen Religionsunterricht mehr zu erteilen.“
Quelle: Süddeutsche Zeitung vom 3. Juli 2013
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„Der Verurteilung liegen folgende Feststellungen zugrunde: Der Angeklagte war als Volksschullehrer an der Gemeinschaftsschule in H. tätig. Er unterrichtete die Schüler der beiden obersten Klassen in Rechnen und Raumlehre. Am 30. September 1960 ließ er eine Rechenarbeit schreiben. Er ermahnte die Schüler vorher, nicht abzuschreiben und nicht zu schwatzen oder sonst zu stören. Die am 13. November 1946 geborene Schülerin Elke G. störte gleichwohl zweimal hintereinander durch Schwatzen. Der Angeklagte wies sie jedesmal zurecht und drohte ihr schließlich mit Schlägen. Da diese Ermahnungen erfolglos blieben, ließ er Elke nach vorn kommen und versetzte ihr ‚abwechselnd mit der rechten und der linken Hand mehrere, etwa sieben, Schläge an den Kopf und auf die Wangen.‘ Als Elke nun zur Tür hinauslaufen wollte, holte der Angeklagte sie zurück und wollte ihr, um sie dafür zu strafen, eine weitere Ohrfeige geben. Sie wich dem Schlage aus und stieß infolgedessen mit dem Kopf gegen eine Wandtafel. Elke setzte sich sodann wieder auf ihren Platz, schrieb aber die Rechenarbeit nicht mit. Später klagte sie über Kopfschmerzen und Unwohlsein, obwohl sie nachmittags noch beim Kartoffelauflesen geholfen hatte. Ihre Eltern ließen am folgenden Tage den Arzt holen, der bei dem Kind eine leichte Gehirnerschütterung sowie Hautabschürfungen am Rücken feststellte und Bettruhe auf eine Woche verordnete. Ob diese Schäden auf die Ohrfeigen des Angeklagten zurückzuführen sind, konnte nicht festgestellt werden.“
Quelle: Aus der Urteilsbegründung des Bundesgerichtshofs vom 4. Mai 1962, mit dem er die Verurteilung eines Lehrers zu einer Geldstrafe aufhob und zu neuer Verhandlung an das Landgericht Bochum zurückverwies.
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„Als ich in den dreißiger und vierziger Jahren zur Schule ging, war körperliche Züchtigung an der Tagesordnung. Am schockierendsten ist im Rückblick, welche Rolle dabei Sympathie und Antipathie spielten. Ein Schulkamerad wurde fast täglich geschlagen. Oft bekam er wegen Kleinigkeiten Stockhiebe auf das Hinterteil. Der Junge stammte aus einer wenig angesehenen kinderreichen Familie, und er hatte einmal den Fehler gemacht, sich zu wehren: Als er vom Lehrer übers Knie gelegt wurde, biss er ihn kräftig in die Wade. Der Pauker hatte aufgeschrien und einen hohen Sprung vollführt, was die Klasse bestens amüsierte.
Quelle: SPIEGEL ONLINE „Eines Tages“ vom 8. Juni 2009
Zur Geschichte:
„Ein wirksames Disciplinarmittel…“ – das Züchtigungsrecht der Lehrer
(vgl. Archivale des Monats Februar 2017, Landesarchiv NRW)
Wir blicken wieder vornehmlich auf Nordrhein-Westfalen, aber auch auf Bundesrecht. Die DDR war den alten Bundesländern in dieser Hinsicht allerdings weit voraus: Bereits seit 1949 waren in ihren Schulen Körperstrafen verboten. Auch in Hessen, Berlin und im Saarland waren seit dem Ende der vierziger Jahre Prügel grundsätzlich nicht anzuwenden.
In Westfalen und im Rheinland war die Erziehung über Jahrhunderte untrennbar mit pädagogisch verstandener Gewaltanwendung verbunden, in der Familie ebenso wie in der Schule. Gleich nach der Einrichtung der Schulaufsicht in Preußen um 1820 fragte man sich im Rheinland, ob die körperlichen Strafen in der Schule erlaubt seien. Es war unklar, ob diese Züchtigungen noch verboten seien und ob nicht die Aufhebung eines eventuellen Verbots angestrebt werden solle. Man einigte sich darauf, dass „mäßige körperliche Züchtigungen […] in manchen Fällen für angemessen und nöthig erkannt“ werden. Solche dürften aber nur „ohne Leidenschaft“ und „mit großer Mäßigung“ ausgeübt werden. Auf der gleichen Linie lag die Entwicklung in den anderen Landesteilen Preußens, die am 14. Mai 1825 ihren Ausdruck in einer allerhöchsten Kabinetts-Ordre fand: Erlaubt wurden schulische Körperstrafen, die aber niemals die „der Schulzucht gesetzten Schranken“ oder das „Maaß der Züchtigung“ überschreiten sollten.
Wenn wir an diese alte Schule denken, dann fällt uns neben dem erhöhten Pult und den starren Bänken sicher auch der Rohrstock ein, der gewiss nicht nur als Zeigestock diente. Entsprechendes Anschauungsmaterial gibt es ja in den Schulmuseen, in Ahaus im Schloss, im Mühlenhof in Münster, auch in Hamburg, übrigens in der Nähe der Reeperbahn. Im „Lexikon der Pädagogik“ von 1913 heißt es: „Das Recht des Lehrers, seine Schüler körperlich zu züchtigen, ist so alt wie die Schule selbst.“ Aber auch damals schon spürte der Verfasser offenbar ein Unbehagen; er fährt nämlich fort:
„Dass viele Erzieher ohne körperliche Züchtigung auskommen, steht fest. Aber ebenso sicher ist, dass sich die Entbehrlichkeit der körperlichen Züchtigung viel leichter in der Theorie dartun als in der Praxis ausführen lässt.“
Prügel und Demütigungen gehörten gleichwohl selbstverständlich zum Schulalltag. 1898 hatte der preußische Kultusminister Robert Bosse die Prügelstrafe abgeschafft. Er wurde daraufhin zum Rücktritt gezwungen. Sein Nachfolger Studt gab den Lehrern das Recht zu prügeln zurück, es sollte jedoch „nur zum Nutzen und Frommen der Schüler“ angewendet werden.
Die durch Recht und Gesetz vorgegebenen Grenzen wurden immer wieder überschritten. Die dringende Notwendigkeit der rechtlichen Regelung war auch wohl deshalb geboten, weil es immer wieder maßlose und ernsthafte körperliche Schäden verursachende Züchtigungen gab, von den seelischen Folgen ganz zu schweigen. Erst 1927 machte das preußische Ministerium erste vorsichtige Versuche zur Eingrenzung des Züchtigungsrechts der Lehrer. Eine vollkommene Abschaffung schien ihm angesichts einer weit verbreiteten Zustimmung nicht möglich. Nach einem Rückschritt unter dem NS-Regime lag die Angelegenheit beim neu geschaffenen Land Nordrhein-Westfalen. Der Erlass des Kultusministers aus dem Jahre 1947 regelte die Sache so: Er untersagte die körperliche Züchtigung bei Mädchen sowie bei Knaben des 1. und 2. Schuljahres grundsätzlich. Bei älteren Knaben war sie nur in den seltensten Fällen erlaubt, z. B. bei Rohheits- und Grausamkeitsvergehen. Dieser Erlass galt zwanzig Jahre später noch, als ich 1967 in den Schuldienst eintrat. In Nordrhein-Westfalen wurde dieses „Erziehungsmittel“ erst 1971 zunächst durch Erlass verboten, dann – als diese Form nicht ausreichte, weil Gerichte Lehrern ein „Gewohnheitsrecht“ zubilligten – durch Gesetz.
Bundesrecht verbot ab 1973 die „körperliche Züchtigung“ in pädagogischen Einrichtungen, von Lehrern, von Jugendfürsorgern, von Pfarrern und anderen Berufsgruppen, die in der Erziehung tätig waren. Allerdings hatte die Geschichte damit noch kein Ende. Weiterhin gab es Gerichtsentscheidungen, die von einer Strafe für prügelnde Lehrer absahen – wie im Beispiel oben beschrieben.
1998 endlich stand es im Bürgerlichen Gesetzbuch § 1631 Abs. 2:
„Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen, insbesondere körperliche und seelische Misshandlungen, sind unzulässig.“
Und das galt jetzt auch in den Familien.
In der nächsten Folge schauen wir uns die Folgen für das weitere Leben der Kinder an.