G9, G8, G9 – Lasst die Schulen einfach mal in Ruhe!

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Schulen brauchen Zeit und Ruhe, um sich zu entwickeln. Eine Periode dauert da schnell mal 15 Jahre. Ziel der Schulentwicklung ist eine gute Schule. Schulpolitiker haben ein anderes Ziel: Sie wollen nach vier oder fünf Jahren wiedergewählt werden.

Beispiel G8/G9

Hü!

Wir erinnern uns: Im Jahr 2000 ging es mit der PISA-Aufregung los. Alle ärgerten sich über die unterdurchschnittlichen Rangplätze des deutschen Schulwesens im internationalen Vergleich. In der Folge wurde ziemlich schnell eine Lawine von Änderungen losgetreten, die ich schon wiederholt hier beschrieben habe. Wir erinnern uns daran, dass die PISA-Studie von der OECD durchgeführt wurde und wird – eine Organisation von Staaten zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Die Einführung des achtjährigen Gymnasiums in etlichen Bundesländern anstelle des neunjährigen  hatte daher weniger das Ziel, die Leistungen zu verbessern, als vielmehr zusammen mit Bachelor- und Master-Studium die jungen Leute früher in Lohn und Brot zu bringen. Wer sich für Einzelheiten interessiert, kann meine Posts zu diesem Thema hier nachlesen: G8: Das Abitur nach acht Jahren Gymnasium (2012) und Ein Thema eskaliert: G8 oder G9 am Gymnasium (2016).

Eltern und ihre Verbände protestierten schon früh gegen die Verdichtung des gleichen Lernstoffs auf weniger Zeit, zumal die Verdichtung überwiegend in der Sekundarstufe I erfolgte. Ein angenehmer Nebeneffekt für die Finanzminister: Weniger Schuljahre erforderten weniger Lehrerstellen.

Die Sache lief aber nicht so, wie gedacht. Die Eltern beruhigten sich nicht; es gab sogar ein Volksbegehren mit dem Ziel, G9 wieder einzuführen. Außerdem: Viele Abiturienten  gingen  nach der Schule in ein – man könnte sagen – Orientierungsjahr als Missionar auf Zeit, als BuFDi, in ein freiwilliges Soziales Jahr und mehr. Die Gymnasien selbst als Systeme hatten mittlerweile Wege gefunden, mit der Situation umzugehen. Sie hatten ihre standortbezogenen Lehrpläne umgestrickt, waren personell heruntergefahren und konnten auch Sporthallen und Fachräume intensiver nutzen. Meinungen der gymnasialen Schulleiter ist daher auch nicht einheitlich, wie diese Links zeigen:

„Insgesamt wünschen sich alle Schulen mehr Verlässlichkeit und klare Bedingungen, unter denen sie arbeiten. Und der Wunsch nach guter Ausstattung, ausreichend vielen Lehrern und Gebäuden schwingt auch immer mit.“ (WDR am 08.06.2017)

Und hier eine Antwort des Schulleiters Alexander Stracke aus Emden zur flächendeckenden Umstellung in Niedersachsen:

„Stracke: De facto macht das eine Schuljahr nach meiner Erfahrung keinen gravierenden Unterschied. Dass darüber so erbittert gestritten wird, finde ich deshalb auch nicht immer angemessen. Andere Themen wären wichtiger. Was ich aber sagen kann: Die Umstellung war jeweils mit erheblichem Aufwand verbunden. Es gab neue Schulbücher, und die Curricula mussten zweimal verändert werden, sodass der Stoff statt in neun in acht beziehungsweise wieder in neun Jahren vermittelt werden konnte. Ich weiß von vielen Kollegen, dass sie dieses Hin und Her genervt hat.“ (Spiegel Online am 02.05.2017)

Und die Schulträger? Sie profitierten von geringerem Raumbedarf bei G8, wenn sie Neubauten planten. Nun müssen sie wieder tiefer in die Tasche greifen.

Hott!

Die Einführung von G8 in NRW hatte die CDU/FDP-Regierung von 2005 bis 2010 umgesetzt. Die folgenden rot-grünen Landesregierungen hatten den Ärger mit den Folgen. Im letzten Wahlkampf machten sich CDU und FDP den Ärger zunutze; sie forderten die Umkehr zu G9. Nach erfolgreicher Wahl setzen sie ihr Vorhaben jetzt um, allerdings – mit Hintertürchen. Da die Schulen von der erneuten Umkehr nicht begeistert sind, wenden die Politiker einen Trick an, der nicht ganz neu ist: Nach gegenwärtiger Planung soll zwar G9 wieder zur Regelform werden; Schulen, die G8 bleiben wollen, sollen dies jedoch selbst beschließen können. Damit sind die Probleme vor Ort. Dort werden die Konflikte ausgetragen, und die Landesregierung, in erster Linie die Schulministerin, kann ihre Hände in Unschuld waschen.

Jetzt also rückwärts: Die Schulen müssen umplanen, die Lerninhalte wieder auf neun Schuljahre verteilen, nach kompetenten Lehrkräften auf einem ziemlich leergefegten Arbeitsmarkt  suchen und wieder mehr Lerngruppen in den (Fach-)Räumen unterbringen. Die Schulträger, die in den letzten Jahren ein Gymnasium gebaut haben, haben einen zu geringen Raumbedarf angenommen. Zur Ironie dieses Verfahrens gehört, dass die Urheber G8 in NRW politisch von der Korrektur hin zu G9 profitieren.

Noch ein Beispiel: Fachunterricht oder fächerübergreifender Unterricht?

Es gibt verschiedene Modelle, wie Unterricht organisiert werden kann. Weit verbreitet ist der Unterricht nach Fächern getrennt, der Fachunterricht mit Deutsch, Mathematik, Kunst, Sport, Biologie und mehr. Die Wirklichkeit begegnet uns aber nicht so bequem nach Fächern sortiert, sondern manchmal ziemlich kompliziert mit Fragestellungen, die sich nicht am Fächerkanon von Schulen ausrichten. So kam man in der Schulpädagogik immer wieder auf die Idee des fächerübergreifenden Lernens.

Hü!

In den letzten Jahrzehnten wurden zum Beispiel in einigen Bundesländern die Fächer Geschichte, Politik, Wirtschaftslehre, Erdkunde in einem Lernbereich Gesellschaftslehre zusammengefasst, oder Biologie, Physik und Chemie zu Naturwissenschaften. Letzteres wollte auch das Schulministerium in Nordrhein-Westfalen unter der Leitung von Gabriele Behler (SPD) und später Ute Schäfer (SPD) einführen. Das Ziel dieses Konzeptes war und ist, fächerübergreifendes Lernen an praxisnahen Themen zu ermöglichen. Ausgangspunkt für den Unterricht ist dabei ein Phänomen aus der Erfahrungswelt der Schüler, nicht die Systematik eines Faches. Das Thema des Unterrichts wird aus der Perspektive verschiedener Wissenschaften beleuchtet. Zum Beispiel: Wir brauchen Wasser zum Leben kann Lernstoff aus der Mathematik bieten: Hohlmaße, Verbrauchsmengen im Haushalt, Verbrauchsmessung, Durchschnittsverbrauch usw. Die Physik kann zum Beispiel Antwort auf die Frage liefern: „Wie kommt das Wasser in den fünften Stock eines Hauses?“.  Die Chemie ist gefragt, wenn es um den Schutz und die Hygiene des Wassers geht, in der Biologie finden wir Antworten auf die Fragen nach der Bedeutung des Wassers für das Leben in der Natur. Selbstverständlich geht es, wenn man das will, auch um geografische und politische Aspekte, die man einbinden kann. Ähnlich sind Themen wie Heizung, Entsorgung usw. aufzuschlüsseln.

Hott!

Mit großem Aufwand wurden seinerzeit Lehrer fortgebildet, Fachräume konzipiert, Schulbücher entwickelt und vieles mehr. Kaum war 2005 die Regierung Rüttgers im Amt – mit der Schulministerin Barbara Sommer – erwies sich die Arbeit als sinnlos: Die Innovation wurde nicht eingeführt, der Einsatz von personellen und sächlichen Ressourcen war vergebens, die Motivation der hier beteiligten Lehrer dahin.

Schulen entwickeln sich langsam, aber stetig.

Sie können gar nicht anders. Die systematische Fluktuation der Schüler gehört zur Schule dazu, auch bei den Lehrkräften gibt es sie – wenn auch nicht so geregelt wie bei den Schülern. Und natürlich ändert sich die Gesellschaft, in der und für die Schule arbeitet. Die Ansprüche und Erwartungen von Eltern wandeln sich ebenfalls. Die Schulträger und ihre Leistungen für die Schulen auch. Kurzum: Die Organisation Schule kann gar nicht anders, als sich zu verändern.

Veränderungen kann man geschehen lassen oder steuern.

Natürlich kann man die Veränderungsprozesse in Schulen planen und gestalten, man muss es sogar. Aber bitte langsam. Wenn neue Lehrpläne und neue Bücher eingeführt werden, ist zum Beispiel in einer Realschule erst nach sechs Jahren das neue Schulbuch in jeder Klasse mindestens ein Jahr gewesen, vor allem dann, wenn wie es in verschiedenen Fächern der Fall ist, ein Schuljahr systematisch auf dem vorigen aufbaut. Ähnlich ist es bei der Personalentwicklung. Die Ausbildung neuer Lehrkräfte muss sich nach der Praxis des aufnehmenden Systems richten; ein Schulleiter, der neu im Amt ist, tut gut daran, nicht nach der Hoppla-jetzt-komm-ich-Methode alles verändern zu wollen. Seine Akzeptanz wächst proportional zu der Zeitspanne, die er sich in seinem Amt bewährt. Diese Spanne wird nach Jahren zu messen sein.

Aus den demotivierenden Folgen der flotten Änderungen der Schulpolitik sollten die handelnden Politiker lernen: Ändert die Rahmenbedingungen langsam und gründlich vorbereitet. Nehmt die Beschäftigten und die Eltern von vornherein mit, vor allem aber denkt bei allem als erstes darüber nach: Was genau bringt das den Schülern?