Viele Gymnasiasten müssen die Schulform wechseln

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„Abschulung“ hört sich nicht gut an, ist auch nicht gut; weder für die betroffenen Schüler noch für deren Eltern, noch für die aufnehmenden Schulen. Gemeint sind die Kinder und Jugendlichen, die ein Gymnasium oder eine Realschule verlassen müssen, weil sie die geforderten Leistungen nicht erbringen. Hier schauen wir uns das Gymnasium in Nordrhein-Westfalen an. Die im Post verwendeten Zahlen aus der amtlichen Schulstatistik entstammen der Landesdatenbank von IT.NRW. Aber wir schauen nicht nur auf die Zahlen, sondern auch darauf, was ein solcher Bruch in der Biographie für die Schüler bedeutet.

Zunehmende Zahl von abgeschulten Gymnasiasten

2016 mussten laut RP Online in NRW 2.773 Gymnasiasten nach der Erprobungsstufe (Klassen 5 und 6) die Schulform wechseln. Laut NRW-Schulministerium waren das 27 Prozent mehr als noch 2011. 

Und das liegt offensichtlich nicht daran, dass Eltern sich nicht an die Empfehlungen zur Schulform halten. Nach Angaben des Schulministeriums in Nordrhein-Westfalen hatten 77 Prozent dieser Schüler eine Empfehlung für das Gymnasium, nur 6 Prozent für die Realschule.

Beispiel Stuttgart

In der Landeshauptstadt Baden-Württembergs, in Stuttgart, sieht es auch schlecht aus: Hier wechselten ausschließlich in dieser Stadt mit Beginn des laufenden Schuljahres 328 Gymnasiasten auf Real- und Gemeinschaftsschulen, so die Stuttgarter Zeitung.

Abgänge aus den Klassen 7 bis 9

Und in der Nähe? Wie sieht es in NRW, im Kreis Borken, in Stadtlohn in den drei Klassen von 7 bis 9 insgesamt aus? Das sind die drei Jahrgangsstufen, zu deren Beginn die Wechsel im wesentlichen stattfinden.

… in Nordrhein-Westfalen

Im vergangenen Schuljahr 2016/17 gab es 192.800 Schüler in den Jahrgangsstufen 7, 8 und 9 der Gymnasien in ganz NRW. Allein in diesen drei Jahrgangsstufen mussten zu Beginn dieses Schuljahres 5.077 das Gymnasium verlassen und in eine andere Schulform wechseln. Das sind 2,6 %.

… im Kreis Borken

Die Vergleichszahlen für den Kreis Borken: Von 3.957 Schülern der Gymnasien in den Jahrgangsstufen 7 bis 9 mussten 93 ihre Schule verlassen Das entspricht einer Quote von 2,4 %.

… in Stadtlohn

Und nun Stadtlohn: Von 335 Gymnasiasten in den Klassen 7 bis 9 mussten 16 gehen, also 4,8 %. Der Prozentsatz abgeschulter Schüler ist hier damit doppelt so hoch wie im Land Nordrhein-Westfalen, fast doppelt so hoch wie im Kreis Borken. Damit nicht genug: Mit 3,2 % (2015/16) und 4,6 % (2014/15) waren die Quoten abgeschulter Schüler aus dem Stadtlohner Gymnasium jeweils deutlich über dem Landes- und dem Kreisdurchschnitt.

Folgen für die Kinder

Eine Abstufung schadet den betroffenen Kindern und Jugendlichen. Der erzwungene Schulwechsel wirkt ebenso wie die Nichtversetzung und weitere Maßnahmen stigmatisierend. Brigitte Schumann von der GGG NRW zitiert den renommierten Bildungsforscher Klaus-Jürgen Tillmann hierzu:

Wir wissen aus der Schulforschung, dass mit all diesen institutionellen Maßnahmen die Betroffenen beschämt und beschädigt werden. „Produziert werden damit Erfahrungen des Versagens, des Nichtkönnens, des Ausgeschlossenwerdens“, so Prof. Tillmann. Nicht selten beginnt für die Kinder und Jugendlichen, die in grob irreführender Weise behördlich als „Rückläufer“ bezeichnet werden, die bildungsbiografische „Rolltreppe abwärts“.

Scham, Versagensangst, Gefühl von Minderwertigkeit, Frustration – das sind nur wenige der Probleme, mit denen die „Versager“ sich auseinandersetzen müssen. Schlimm wird es, wenn die Motivation gelitten hat. Die Anstrengungsbereitschaft lässt nach. Lehrer beobachten in der Schulpraxis auch, dass die abgeschulten Gymnasiasten selbst in der Realschule zu den Schwächeren gehören. Ich habe es erlebt, dass Schüler aus dem Gymnasium letztlich in der Hauptschule landeten, dort sogar den Mittleren Bildungsabschluss verpassten. Ein Erschwernis ist dabei, dass die Realschule nicht Gymnasium minus etwas ist, sondern einen eigenen Bildungsgang mit teils eigenen Fächern, jedenfalls mit eigenen Inhalten und Zielen hat. In diesen fremden Kontext müssen sich die „Rückläufer“, wie diese Kinder auch genannt werden, teils mühsam einfinden.

Folgen für das Schulsystem

Nicht selten werden diese Kinder oder Jugendlichen von der aufnehmenden Realschule nach ein oder zwei Jahren an die Hauptschule weitergereicht. Schumann dazu weiter:

Diese deutsche Form der Durchlässigkeit „nach unten“ hat in der Vergangenheit die Hauptschule zum Auffangbecken für die in und an den gegliederten Schulformen Gescheiterten werden lassen. Sie hat im Ergebnis wesentlich zur unaufhaltsamen institutionellen und pädagogischen Krise der Hauptschule beigetragen, die immer mehr Bundesländer zur Einführung der Zweigliedrigkeit veranlasst.

Konsequenzen für Eltern

Eltern müssen sich entscheiden, wenn ihr Kind die vierte Klasse der Grundschule verlässt. „Wir wollen es mal probieren“, ist keine sinnvolle Begründung für die Wahl eines Gymnasiums. Im dreigliedrigen System – Hauptschule, Realschule, Gymnasium – gibt es rechtlich die Durchlässigkeit für Schüler in beide Richtungen; „aufwärts“ gelingt es aber nur wenigen, im Kreis Borken liegen diese Zahlen pro Jahr im unteren einstelligen Bereich. Umgekehrt liegt die Zahl der Abschulung in die Realschule und auch von dort in die Hauptschule im dreistelligen Bereich.