Hochbegabung III – Förderung in der Schule

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Auch wenn wir grundsätzlich einen breiten Begabungsbegriff im Fokus halten, geht es in diesem Kapitel um die Begabung für das Lernen in der Schule. Dabei nehmen wir besonders Kernfächer in den Blick, also Fächer mit hohem Stundenanteil: Deutsch, Mathematik, Fremdsprachen – Fächer, für die kognitive und sprachliche Kompetenzen gefordert sind.

Alle Kinder haben ein Recht auf Förderung – auch Hochbegabte

Durch die Diskussion über Inklusion sind in den letzten Jahren vielfach schwache Lerner und deren angemessene Förderung in den Blick genommen worden. Allerdings: Förderung eines jeden Kindes ist Auftrag des Staates und seiner Schulen. Das ist die einzige Rechtfertigung für die Einschränkung der Freiheit von Kindern und ihren Eltern durch die gesetzliche Schulpflicht. 

Underachiever

Dass auch hochbegabte Kinder gegen alle Erwartung Schwierigkeiten haben können, die Ziele des Unterrichts zu erreichen, wissen wir seit langem. Nicht häufig, aber es kommt vor, dass bei Schulversagen und auffälligem Verhalten ein intensiverer Diagnoseprozess zu der Erkenntnis führt: Dieses Kind ist unterfordert; aus der Unterforderung (in Kombination mit anderen Problemen) entstehen manchmal Auffälligkeiten, die den Lernprozess stören können. Solche Kinder heißen auch Underachiever (engl. to achieve – erreichen). Frei übersetzt heißt das: Diese Schüler erreichen die Ziele nicht, die sie erreichen könnten. Dieses Phänomen ist natürlich nicht auf hochbegabte Kinder begrenzt.

Schulische Förderung

Die Schule hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, Unterrichtsprozesse mit dem Ziel einer adressatengerechten Förderung zu organisieren:

  • Bildung homogener Lerngruppen: Möglichst gleichartige Kinder bilden eine Lerngruppe, eine Klasse, einen Kurs usw.
  • Individuelle Förderung: In den gemischten (heterogenen) Lerngruppen erhalten die Schüler unterschiedliche Aufgaben, gehen unterschiedliche Lernwege usw.
Bildung homogener Lerngruppen

Die Bildung von Lerngruppen, in denen nur gleichartige Kinder sitzen, ist denkbar, aber unmöglich. Die Gleichartigkeit kann sich nur auf wenige Kriterien beziehen; in unserem bestehenden System ist es in den meisten Fällen das biologische Alter: Kinder im Alter von 6 Jahren sind in der 1. Klasse, mit 10 Jahren sind sie in der 5. Klasse usw. Dass Kinder gleichen Alters nicht gleich weit entwickelt sein müssen, zeigt schon die erste Grenze dieser Struktur auf. Man versucht, durch „Sitzenbleiben“ (Nichtversetzung) die Homogenität zu reparieren, mit der Folge, dass der Sitzenbleiber vielleicht in Mathematik und Physik versagt hat, aber alle anderen Fächer auch wiederholen muss – eine Vergeudung von Lebenszeit.

Kinder lernen auf verschieden Wegen und über unterschiedliche Kanäle: akustisch, optisch, haptisch. Sie lernen unterschiedlich schnell. Ihre Möglichkeiten ändern sich in kurzer Zeit – ein Krankheitsfall, Trennung der Eltern, Konflikte innerhalb oder außerhalb der Familie können binnen kurzem Lernprozesse stark hemmen.

Um das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten: Grundsätzlich ist die Bildung homogener Lerngruppen da sinnvoll, wo sich ein System auf unterschiedliche Abschlüsse (Hauptschulabschluss, Mittlerer Bildungsabschluss, …) zu bewegt. Aber immer muss klar sein, dass die Gleichartigkeit von Schülern sich nur auf wenige Kriterien beziehen kann. Zu diesen Kriterien können erworbene oder angestrebte Abschlüsse zählen, unterschiedliche Lerninhalte, sogar verschiedene Fächer. Sofern möglich, muss die Organisation flexibel und durchlässig sein. Wir haben im ersten Teil Hochbegabung I den dynamischen Begabungsbegriff kennengelernt, der bedeutet, dass sich Begabungen in verschiedenen Phasen positiv wie negativ verändern können. Auf diese Änderungen muss das Schulsystem eingehen können, indem es den Wechsel zwischen den Gruppen in jede Richtung möglich macht.

Individuelle Förderung

Die individuelle Förderung ist in homogenen wie in heterogenen Lerngruppen möglich. Das historische Beispiel hierfür ist die ehemalige einklassige oder zweiklassige Landschule. In meiner ersten Stelle in Beerlage-Temming unterrichtete ich 1967 die Klassen 1 bis 3 in einem Klassenraum, meine Chefin hatte die Klassen 4 bis 7. Voraussetzung ist einerseits hinreichendes, gutes Lernmaterial, das auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler Rücksicht nimmt, und eine gute Organisation der Lernprozesse andererseits. Einzelarbeit, Partnerarbeit, Gruppenarbeit in wechselnden Gruppen – vieles ist möglich.

Die individuelle Förderung im Stil der alten Landschulen gab und gibt es in reformpädagogischen System wie Montessorischulen und Jenaplan-Schulen schon lange; auf deren Erfahrungen fußend sind heute in etlichen Grundschulen die flexiblen Eingangsphasen eingerichtet: Kinder werden in den Jahrgängen eins bis zwei gemeinsam unterrichtet –  auch dort, wo die Bildung reiner Jahrgangsklassen zahlenmäßig möglich wäre. Sie durchlaufen die Eingangsphase in einem, zwei oder drei Jahren – nach ihrem Entwicklungs- und Lerntempo.

Besondere Förderung besonders begabter Kinder

Dazu gibt es zwei Begriffe, die in der Diskussion immer wieder auftauchen:

  • Akzeleration: Ein schnelleres Durchlaufen der Schule
  • Enrichment: Eine Anreicherung bzw. Ausweitung von Unterrichtsinhalten

In beiden Fällen geht es darum, das höhere Lerntempo (hoch-)begabter Kinder zu bedienen.

Akzeleration (Beschleunigung)

Ein Kind wird früher eingeschult, es überspringt eine Klasse – das sind typische Organisationsformen der Akzeleration.

Einige Gymnasien sammeln besonders begabte Kinder in einer D-Zug-Klasse. (Die Bezeichnung sollte man allerdings ändern, da der D-Zug schon seit Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist.) In dieser Klasse werden Schüler gemeinsam unterrichtet, die überdurchschnittlich gute Leistungen abliefern – also eher als besonders begabt bezeichnet werden sollten, wenn wir den Begriff Hochbegabung für Spitzenbegabungen reservieren wollen. Bei solchen Klassen handelt es sich natürlich um den Versuch der Bildung einer möglichst homogenen Lerngruppe, deren Mitgliedern man ein besonders schnelles Lerntempo zutraut. Sie durchlaufen dann einen Teil ihrer Schullaufbahn gemeinsam und bewältigen diesen schneller als die anderen Schüler.

Die oben beschriebene Formen von jahrgangsübergreifenden Eingangsstufen in Grundschulen, die in einem, in zwei oder in drei Jahren durchlaufen werden können, sind auch eine Form der Akzeleration für diejenigen, die den Durchgang in einem Jahr schaffen.

Extrem wird der Versuch, homogene Lerngruppen zu bilden, wenn Privatschulen sich als Eliteschulen, als Schulen für Hochbegabte, profilieren. Neben anderen Einwänden muss man den gesellschaftlichen Auftrag der Schule im Auge behalten: Es geht immer auch um soziales Lernen in der Schule; da kann eine Verengung der sozialen Kontakte hinderlich sein, Einblicke in gesellschaftliche Realitäten zu gewinnen.

Enrichment (Anreicherung)

Bei dieser Form der Unterrichtsorganisation erhalten besonders begabte Kinder zusätzliches „Futter“. Der Lehrplan wird vertieft behandelt, das Anspruchsniveau der Aufgaben wird erhöht, Unterricht wird über den verbindlichen Stoff hinaus angereichert. Das geschieht in ganz verschiedenen Formen: Arbeitsgemeinschaften innerhalb des Ganztagsangebotes oder im Wahlpflichtunterricht, Wochenendkurse,
Ferienakademien, Kooperation mit Hochschulen und anderen Bildungseinrichtungen, individuelle Projekte, zusätzliche Leistungskurse und mehr.

Eine besondere Art der Differenzierung sind „Pullout“-Programme: Schüler bleiben grundsätzlich in ihrem angestammten Klassenverband, werden aber für bestimmte Fächer oder Zeiten herausgezogen und mit anderen Kindern in einem höheren Anspruchsniveau unterrichtet. Diese Vorgehensweise findet bei komplexen Stundenplänen in größeren Systemen eine natürliche Grenze. In Grundschulen ist sie noch am ehesten zu realisieren. Eine ähnliche Form der Unterrichtsorganisation finden wir beim Unterricht für Kinder mit Migrationshintergrund, die Deutsch als Zielsprache lernen.

Fazit

Hiermit endet unsere kurze Serie zur (Hoch-)Begabung. Sie sollte einer ersten Orientierung dienen – auch begrifflich. Wir halten fest:

  1. Begabung und Hochbegabung sind komplexe Begriffe. Begabung und Intelligenz sind verschiedene Paar Schuhe.
  2. Jedes Kind hat das Recht auf einen Unterricht, der seinen Begabungen entspricht.
  3. Eltern können sich beraten lassen – immer zuerst in der zuständigen Schule, dann unter Umständen in einer anerkannten, seriösen Beratungsstelle (wie das icbf in Münster). Im Zweifel werden hier zuverlässig Begabungsprofile erstellt und Ratschläge zum weiteren Bildungsgang gegeben.
  4. Für besonders Begabte gibt es innerhalb des Schulsystems Angebote innerer und äußerer Differenzierung.