Das Bild oben findet man auf der Website einer Grundschule.
Schon wieder Ping-Pong in der Schulpolitik:
- 1996 Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung in Nordrhein-Westfalen durch eine rot-grüne Landesregierung
- 2006 Wiedereinführung durch eine schwarz-gelbe Landesregierung
- 2010 Abschaffung durch eine rot-grüne Landesregierung
- 2018 FDP-Schulministerin erwägt Wiedereinführung
Die derzeit gültige Regelung können Sie hier nachlesen.
Es ist unerträglich, dass jede Landesregierung Änderungen der Vorgängerregierung „korrigiert“. Schulen brauchen für ihre Entwicklung ein Mindestmaß an Verlässlichkeit. Zudem sind und waren die Regelungen zu den Empfehlungen unterschiedlich: Manchmal galten sie für zwei Schulformen, manchmal konnte die Lehrkraft, statt eine Eignung auszusprechen, vielleicht oder eingeschränkt geeignet schreiben. (Eine Floskel, auf die viele Lehrkräfte zurückgriffen, wenn es Konflikte mit Eltern gab.)
Um es vorweg zusagen: Ich bin ein Gegner der Verbindlichkeit von Grundschulempfehlungen, nicht nur weil die Begriffe Empfehlung und Verbindlichkeit einander widersprechen. In erster Linie geht es um die mangelhafte Qualität dieser Entscheidungen.
Die Zeitungen von heute sind wieder voll davon – pünktlich zu den Anmeldewochen hat die Schulministerin Frau Gebauer es geschafft. Die WELT titelt: Verbindliche Grundschulempfehlung: Gebauer erwägt Rückkehr und die Rheinische Post: Lehrer wünschen sich Grundschulgutachten zurück. Zumindest das ist falsch – die beiden großen Lehrerverbände Verband Bildung und Erziehung (VBE) und Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) haben sich daraufhin ausdrücklich gegen eine Verbindlichkeit ausgesprochen.
Fünf Gründe gegen eine verbindliche Empfehlung
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Schulen sind in ihren Anforderungen unterschiedlich
Weder Gymnasien noch Realschulen oder Hauptschulen sind als Schulformen einheitlich. Die ehemalige Hauptschule in Legden hatte – auch aufgrund ihrer Lage als einzige weiterführende Schule am Ort – im Durchschnitt leistungsfähigere Schüler als die Realschulen in Münster. Jede Schule ist ein Unikat. Sie unterscheidet sich von anderen Schulen durch ihre Anforderungen, durch die Leistungsfähigkeit ihrer Schülerschaft, durch die Elternschaft in der Region, durch die Qualität ihrer Lehrer, durch ihr Profil, durch ihre geographische Lage (in Gelsenkirchen-Buer oder Gelsenkirchen-Bismarck). Auch sind Lehrer derselben Schule unterschiedlich in den Forderungen an ihre Schüler.
Wer kennt die Situation nicht: Ein Kind hat Probleme in – sagen wir – Mathematik. Im neuen Schuljahr übernimmt ein anderer Lehrer das Fach, und das Kind hat um ein oder zwei Notenstufen bessere Leistungen. In diesem Beispiel hat sich nicht das Kind verbessert, sondern es hat jetzt einen Lehrer, der seiner Art zu lernen gerecht wird. Ein Schüler, der im Gymnasium X scheitert, trifft vielleicht im Gymnasium Y einen Lehrer, der ihn so zu fördern weiß, dass er den Ansprüchen genügt. Die verbindliche Empfehlung zum Besuch einer Realschule hätte ihm im letzteren Fall den Zugang zum Gymnasium verbaut. Noch deutlicher: Ein Schüler, der in einer Klasse des Gymnasiums X scheitert, trifft den besseren Lehrer vielleicht sogar schon in der Parallelklasse derselben Schule.
In meinem Post Viele Gymnasiasten müssen die Schulform wechseln, habe ich mit amtlichen Schuldaten belegt, dass überdurchschnittlich viele Schüler das Gymnasium in Stadtlohn im Vergleich zum übrigen Kreis Borken und auch im Vergleich zum ganzen Land während der Klassen 5 bis 7 verlassen müssen. In manchen Jahren schickt das Stadtlohner Gymnasium prozentual etwa doppelt so viele Kinder zu Haupt- oder Realschule wie andere Gymnasien im Kreis oder im Land. Die Schulen „sieben“ offenbar mit unterschiedlichen Ansprüchen ihre jeweiligen Schüler.
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Grundschullehrkräfte haben oft nicht die Qualifikation zur validen Empfehlung
Es gibt weder in der Lehrerausbildung noch in der Lehrerfortbildung ein Modul, das die Grundschullehrkräfte auf die Aufgabe einer Schulform-Empfehlung angemessen vorbereitet. Richtig ist: Sie kennen die Kinder in der Regel gut; richtig ist auch: Sie kennen die aufnehmende Schule und deren Schulform nicht gut. Bei altgedienten Lehrern hat sich im Rahmen eines Lernprozesses eine Erfahrung gebildet, welche Schüler es in der Realschule oder im Gymnasium geschafft haben, bis zum Abschluss bleiben zu können, welche nicht. Daraus leiten sie mit Blick auf die ganz konkrete Schule eine subjektive Prognose ab.
Grundschullehrkräfte haben den Einblick in andere Schulformen überwiegend aufgrund ihrer eigenen Biographie als Schüler, und die liegt vielleicht schon Jahrzehnte zurück.
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Es gibt keine objektiven Kriterien für die Empfehlung
Die Frage, was braucht ein Kind, um erfolgreich ein Gymnasium oder eine Realschule zu besuchen, ist nirgendwo geklärt. In Bayern geht man nach den Zensuren in den wichtigsten Fächern; angesichts der mangelnden Objektivität von Schulnoten – oft untersucht und nachgewiesen – eher ein Lotteriespiel. Gehören auch Konzentrationsvermögen, Kreativität und Ausdauer zu den Kriterien? Wenn ja, wie werden diese gemessen? Werden sie überhaupt gemessen oder bleibt es bei vagen Eindrücken? Wenn wir das Titelbild dieses Beitrages ansehen, so wirkt die Nennung von Häufigkeiten von Zensuren in nur wenigen Fächern und ohne weitere Kriterien recht schlicht. Die gültige rechtliche Regelung geht über solche Nennungen hinaus, indem sie ausdrücklich das beratende Gespräch zwischen Eltern und Schule in den Mittelpunkt stellt.
Es gibt doch – könnte man einwenden – landesweite Vergleichsarbeiten in der Grundschule, kann man daraus nicht objektive Kriterien ableiten? – Nein, kann man nicht. Die werden nämlich auch nur in wenigen Fächern, in den sogenannten Kernfächern geschrieben, und die Kinder verschiedener Schulen sind möglicherweise verschieden auf diese Arbeiten vorbereitet worden. Außerdem: Weitere wichtige Faktoren wie Ausdauer und Konzentration werden damit nicht erfasst.
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Kinder entwickeln sich in Stufen und Phasen
Die Leistungsfähigkeit eines Kindes entwickelt sich nicht wie eine mehr oder weniger gleichmäßig steil ansteigende Linie, so dass man einem Zehnjährigen schon seine Leistungen in der Zukunft zuschreiben könnte. Sie entwickelt sich in Stufen; in einem bestimmten Alter gibt es körperlich und psychisch Schübe, in denen die Entwicklung rasant verläuft. Der erste Gestaltwandel mit etwa sieben Jahren ist so eine Schubphase, die Pubertät eine weitere. Andererseits gibt es Phasen, in denen es nur gemächlich vorwärts geht. Manche Kinder verweilen länger auf einer Stufe, absolvieren die nächste aber im Eiltempo – oder umgekehrt.
Die Entwicklung in der Grundschulzeit ist nicht übertragbar auf spätere Lebensalter; auch, weil dann zum Teil völlig andere Fähigkeiten gefordert sind – zum Beispiel ein viel weiterreichendes Abstraktionsvermögen. Dazu kommt, dass es Belastungen in der kindlichen Entwicklung geben kann, die die Leistungsfähigkeit stark beeinträchtigen: Eine Ehe, die in die Brüche geht, die Krankheit eines Elternteils oder des Kindes selbst und anderes mehr. Also: Eine gelingende oder misslingende Schullaufbahn vorherzusagen ist nicht möglich – es geht maximal um Wahrscheinlichkeiten.
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Manche Grundschullehrkräfte scheuen den Konflikt mit den Eltern
Natürlich gibt es die Eltern, die in jedem Fall ihr Kind am Gymnasium sehen wollen. Wenn die (verbindliche) Grundschulempfehlung das nicht hergibt, setzen sie den Lehrer unter Druck, drohen mit Beschwerden, Widerspruch oder Klage. Ich habe oft erlebt, dass Lehrer dann sagten: Was soll ich mich lange mit den Eltern herumschlagen, ich schreibe „geeignet“ oder „vielleicht geeignet für das Gymnasium“, dann habe ich meine Ruhe. Wenn es dann bei einem „nicht geeignet“ auch noch geschehen kann, dass das Kind einen in diesem Fall notwendigen Probeunterricht besteht, dann fürchtet man auch noch um sein Renommee.
Was ist die Folge von Fehlentscheidungen von Eltern oder Lehrern?
Ein Kind, das in der Schule versagt, leidet. Das trifft für diejenigen Schüler zu, die in eine Schule gehen, die zu anspruchsvoll für sie ist. Es gibt aber auch das Gegenteil – Kinder, die in eine Haupt- oder Realschule gehen, obwohl sie ein Gymnasium besuchen könnten. Sie sind möglicherweise unterfordert – und fühlen sich auch so. Auch diese Kinder leiden.
Ein überfordertes Kind wird irgendwann „abgeschult“, es steigt ab – von der Realschule in die Hauptschule, vom Gymnasium in die Realschule oder gleich in die Hauptschule. Ein unterfordertes Kind muss nicht, aber kann die Schule und Schulform wechseln, es kann „aufsteigen“. Das allerdings geschieht selten; die Schule hat eher ein Interesse, ein leistungsfähiges Kind zu halten als es an eine andere Schulform abzugeben.
Fazit
Angesichts der Unsicherheiten sollte es also keine verbindliche Aussage über die Eignung für eine bestimmte Schulform geben. Aber was sinnvoll ist: Eltern und Klassenlehrer setzen sich zu einem Beratungsgespräch zusammen, in dem die Begabungen des Kindes besprochen werden. Die dazu passenden Schulen und Schulformen werden bedacht. Die derzeit geltende Regelung entspricht diesem Vorgehen weitgehend.
Gesamtschulen und Sekundarschulen können die bessere Wahl sein, zumal ja jetzt auch der Zeitvorteil von einem Jahr (G 9 statt G 8) bei den meisten Gymnasien verschwindet. Jedenfalls werden in diesen integrativen Schulformen keine Schul- oder Schulformwechsel erforderlich. Der Bildungsweg des Kindes kann – wenn nötig – schulintern angepasst werden.