Immer bessere Abiturnoten III – Schulwahlverhalten

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Neulich gab es in der ZEIT ein Dossier zum Thema Abitur: In Braunschweig legen 48 % eines Schülerjahrgangs die Reifeprüfung ab, in Cloppenburg 18 %. Zwei Städte in Niedersachsen, dieselben Lehrpläne, dieselben Anforderungen an das Abitur. Wie kommt das?

Das Abitur als Wunsch-Bildungsziel

Der FOCUS berichtete online am 04.02.2012 von einer Studie im Auftrag der Vodafone-Stiftung:

Der Wunsch von Eltern nach guten Schulabschlüssen für ihre Kinder ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. Wie ehrgeizig Mütter und Väter in Bildungsfragen geworden sind, beweist eine Studie der Vodafone-Stiftung: 66 Prozent aller Eltern wünschen sich heute für ihr Kind das Abitur, nur drei Prozent sind noch mit einem Hauptschulabschluss zufrieden. – Focus online vom 04.02.2012

Und der SPIEGEL berichtete 2015:

Wer einer höheren sozialen Schicht angehört, zieht für den Nachwuchs eigentlich nur einen Schulabschluss in Betracht: das Abitur. 90 Prozent der Oberschichteltern sagen, dass sie die Hochschul- oder Fachhochschulreife für ihren Nachwuchs wünschen.
Eltern aus schwächeren sozialen Schichten begnügen sich dagegen weitaus häufiger mit einem mittleren Abschluss. 52 Prozent von ihnen streben einen Mittleren Abschluss für die eigenen Kinder an. Das Abitur wollen dagegen nur 31 Prozent. – SPIEGEL Online am 11.03.2015

Wohlgemerkt: Bei diesen Studien wurde nach dem Abschluss, nicht nach der gewünschten Schulform gefragt. Das Abitur ist der reguläre Abschluss des Gymnasiums, es kann in verschiedenen Typen beruflicher Schulen erworben werden, in der Gesamtschule, im Abendgymnasium, auch in Kombinationen von verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I mit einer gymnasialen Oberstufe, die an den oben genannten Schulformen ebenfalls existiert.

Umschichtung der Schüler auf Schulen mit Abitur-Angebot

Alles in allem gibt es also einen stärkeren Run auf die Schulen, die das Abitur als Abschluss anbieten. Im Vergleich mit Untersuchungen aus der Mitte des letzten Jahrhunderts sind es etwa vier- bis fünfmal so viele. Wie diese Umstellung auf höhere Zahlen funktioniert, ist klar: Die Hauptschule -früher Volksschule – wird nicht mehr angewählt, der Hauptschulabschluss ist kein Garant für Erfolg auf dem Markt der Ausbildungs- und Arbeitsplätze. Schüler, die früher die Hauptschule besuchten, gehen jetzt in andere Schulformen, auch in Realschulen und Gymnasien. Dadurch sinkt die durchschnittliche Leistungsfähigkeit der Schüler in allen Schulformen mit Abitur-Option. Die Folge davon wiederum ist  eine grundsätzliche Entscheidung: Bleiben die alten Schwierigkeitsgrade, fallen zu viele bei der Reifeprüfung durch. Das wirft ein schlechtes Licht auf die Schulen, die zum Abitur führen. Also bleibt die Anpassung der Forderungen an die Leistungsfähigkeit der Schüler. Eine gerade pensionierte Lehrerin aus einem Berliner Gymnasium berichtet im Interview:

Das Niveau sinkt. Wenn man allen die gleichen Chancen einräumen will, muss das Level sinken. Das merken die Eltern. Jugendliche, die heute mit 2,0 von der Schule gehen, sind nicht so gut wie Schüler, die vor zehn Jahren eine 2,5 hatten. Die Bewertung im Abitur hat sich geändert. 15 Punkte gab es einmal für 100 Prozent. Heute gibt es die 15 Punkte bei 95 Prozent. Das setzt sich in den anderen Stufen auch fort. Die Politik findet immer Schrauben, an denen man drehen kann. Was leidet, ist das Wissen, die Allgemeinbildung. – Online-Ausgabe der WELT vom 15.06.2015

 

Fazit

  • Die Schülerpopulation in allen Schulformen hat eine größere Leistungsspreizung, nur die in der Hauptschule nicht. Hier sammeln sich die Schwächsten.
  • Schüler, die früher den Real- oder Hauptschulabschluss anstrebten, wollen jetzt das Abitur.
  • Wenn möglichst viele das Abitur bestehen (sollen), muss man die Anforderungen der Reifeprüfung an die schwächeren Schüler anpassen. Damit steigen zwangsläufig die Leistungsnoten der leistungsfähigeren Schüler.
  • Und damit haben wir einen weiteren Hinweis darauf, welche Gründe für den Anstieg der besonders guten Noten zu vermuten sind: Politisches Handeln der Schulministerien bedient die Wünsche der Eltern – wie auch zuletzt bei der Rückabwicklung von G8. Das muss nicht falsch sein, sollte aber immer gegen andere Güter abgewogen werden.

Und wie ist das mit Braunschweig und Cloppenburg?

Die Gründe für die Unterschiede in den Abiturientenzahlen sind komplex. Gewiss zählt dazu, dass in großstädtisch geprägten Gegenden die Dichte von weiterführenden Schulen größer ist.Sie liegen näher beieinander und sind gut erreichbar, vielleicht sogar fußläufig. In ländlichen Gegenden ist das anders: Die Wege sind weiter und dauern länger. Oft muss man mit dem Bus fahren. Manches Elternpaar möchte den Kindern keine stundenlangen Schulwege zumuten.

Eine gymnasiale Schulleiterin aus Cloppenburg sagt im Interview der ZEIT:

Mich lässt das nicht mehr los. … Meine erste Erklärung hängt mit den Distanzen bei uns auf dem Land zusammen. Wir haben Schüler, die aus entlegenen Dörfern kommen. Und dort teilweise aus entlegenen Häusern, wo Wege hinführen, die keine Straßennamen mehr haben. Diese Kinder sind morgens eine Stunde unterwegs. Erst mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle, dann mit dem Bus in die Stadt, dann zu Fuß zu uns. Und nachmittags alles wieder zurück. – ZEIT Online am 14.03.2018

Braunschweig ist eine Großstadt und eine Universitätsstadt. Die Hochschule liegt vor der Haustür. Für viele Eltern ist der Wunsch nach einem Studium des eigenen Kindes selbstverständlicher, erst recht mit Blick auf einen möglichen Berufswunsch im universitären oder bildenden Bereich.

Und ein Schulleiter eines Braunschweiger Gymnasiums im gleichen Interview:

Wir haben es eher mit einem Bildungsbürgertum zu tun, das nicht zögert und zweifelt. … Aber die meisten Schüler kommen aus der direkten Nachbarschaft.

Das Abitur ist das Zeugnis der Allgemeinen Hochschulreife. Bei dem Leistungsrückgang, der sich hinter der Inflation von guten Noten versteckt, ist nicht verwunderlich, dass die Universitäten nachschulen müssen. Und andererseits ist verständlich, warum die Abiturienten trotz ihrer guten Noten im Studium oft scheitern; viele gehen dieser Erfahrung aus dem Weg, indem sie von vornherein eine Ausbildungsstelle antreten.