Am 22. Juni 2018 versammelten sich viele Gäste im Schulzentrum der Stadt Gescher, weil mit Ablauf dieses Monats – am 31. Juli – zwei der dort beheimateten Schulen, die Real- wie auch die Hauptschule, rechtlich und formal gesehen, aufhören zu existieren. – Aber was sind Schulen eigentlich? Die Gebäude? Die Lehrer? Die Schüler?
Was ist eine Schule?
Was sagt(e) das Gesetz?
Das Schulverwaltungsgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, das schon lange außer Kraft ist, hatte einen Schulbegriff definiert:
„§ 1
SchulbegriffSchulen im Sinne dieses Gesetzes sind Bildungsstätten, in denen Unterricht unabhängig vom Wechsel der Lehrer und Schüler nach einem von der Schulaufsichtsbehörde unter Anführung dieser Vorschrift festgesetzten oder genehmigten Lehrplan erteilt wird.“
Schule sind in erster Linie die Menschen
Eine Schule ist demnach eine ziemlich abstrakte Sache. Sie existiert „unabhängig vom Wechsel der Lehrer und Schüler“. Ich glaube, dass wir uns am 22. Juni, als fast 500 Menschen im Theater- und Konzertsaal des Schulzentrums versammelt waren, nicht von Institutionen verabschiedet haben, die vom Wechsel der beteiligten Personen unabhängig waren, sondern von Schulen, die ganz konkret durch die dort lehrenden und lernenden Menschen geprägt waren. Die Erinnerung an „Ferdi“ Bernard, an Karin Thiele, an die Rektoren Heinz Wolberg und Michael Roters, an all die Lehrkräfte, an Schulkiosk und Projektwochen, an Klassenfahrten nach London, an Bootsbau und an Klassenarbeiten hat unser Bild von diesen Schulen und unseren Erinnerungen daran geprägt.
Die Menschen kommen und gehen – Lehrer wie Schüler
Natürlich kam Wehmut auf. Was wir aber nicht vergessen dürfen: Weil es eben um die Personen in den beiden Schulen ging, stand jetzt das Abschiednehmen auf dem Programm. In den siebziger Jahren waren viele Lehrkräfte neu eingestellt worden. In die riesige Hauptschule der damaligen Zeit pumpte das Land mehrere Jahre lang junge Lehrkräfte, deren Zahl im jeweils zweistelligen Bereich lag. Und diese alle sind in den letzten Jahren pensioniert worden, das gilt für beide Schulen. Frau Thiele wurde ebenso pensioniert wie Herr Bernard, Herr Roters ebenso wie Herr Wolberg. Die beiden Schulen, die eben nicht unabhängig vom Wechsel der Lehrer und Schüler leben und lebten, hätte es aus diesem Grund in der bekannten Form keinesfalls mehr gegeben. Es ist ein großes Kompliment an die Verantwortlichen der Schulen, dass so viele Lehrkräfte stabil über Jahrzehnte blieben und so für Kontinuität sorgten. Aber irgendwann erreichen sie alle die Altersgrenze und machen Platz für neue Lehrer. Andere Lehrer geben den Schulen ein anderes Profil – und in Gescher tun sie das in einer anderen Organisationsform, der Gesamtschule.
Auch Schüler sind maßgeblich am Profil einer Schule beteiligt. Sie prägen mit ihren Leistungen, mit ihren Fördermöglichkeiten und -bedarfen das Bild der Schule in der Öffentlichkeit. Sie punkten mit Sport, Musik oder Mathematik, mit guten Leistungen in der beruflichen Ausbildung und mit ihrem Wirken lange nach ihrer Schulzeit.
Und zum Schluss: Auch das Gebäude ist Schule
Letztlich: Auch Schulgebäude werden älter. Vieles hat sich baulich verändert, weil die Anforderungen an eine Schule heute andere sind – zum Beispiel der Wunsch nach einem Ganztagsangebot. Oder die Notwendigkeit eine in die Jahre gekommene Fassade zu renovieren.
Die Entwicklung geht weiter
Also: Menschen entwickeln sich, Lehrer wie Schüler. Sie werden älter, lernen aus ihren Erfahrungen und verändern sich, auch deshalb, weil ihre Umwelt sich ändert. Die Kinder, die ich 1969 in der fünften Klasse unterrichtet habe, sind heute etwa 60 Jahre alt. Sie erinnern sich an ihre vor einigen Jahren verstorbene Klassenlehrerin Karin Huskamp, an Georg Bergmann und Josef Störkmann, an Herbert Krechting und Anni Höing. Die Jungen und Mädchen, die damals in der neunten Klasse waren und denen ich das Rechnen mit dem Rechenstab vermittelt habe, sind heute am Ende ihres Berufslebens angelangt. Sie leben in einer Welt, in der Computer und digitale Revolution die Marken setzen, nicht der Rechenstab. Die Erinnerung an ihre Schule ist geprägt von einer Hauptschule, die 60 Prozent und mehr eines Grundschuljahrgangs aufnahm, von einer Realschule, die bis zu 30 Prozent Übergangsquote hatte, und wo für das Gymnasium und die Sonderschule zusammen zehn Prozent blieben. Die Schulen, von denen sie sich heute verabschiedet haben, waren ihnen natürlich fremd – es waren dieselben, aber nicht mehr die gleichen Schulen ihrer Kindheit und Jugend.
Schulen entwickeln sich ebenfalls; sie sind lernende soziale Systeme. Sie müssen auf veränderte Rahmenbedingungen, auf neue Herausforderungen antworten, indem sie sich verändern. Wenn Eltern und Schüler die Hauptschule nicht mehr anwählen, ist das dreigliedrige System insgesamt am Ende. Und – wie Rektor a. D. Michael Roters am Abend des 22. Juni beim gemeinsamen Abschied sagte: Das dreigliedrige System entstammt der ständisch gegliederten Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts. Es ist seit langem nicht mehr zeitgemäß.