Buchbesprechung, erschienen in der Pädagogischen Rundschau Heft 3/2015, S. 313 ff
Hermann Vortmann
Volker Ladenthin: Wozu religiöse Bildung heute?
Sieben Versuche, an der Endlichkeit zu zweifeln.
Echter Verlag Würzburg. 2014. 237 Seiten. Broschiert 16,80 Euro
Es geht Volker Ladenthin mit diesem engagierten Buch nicht etwa um eine Didaktik des Religionsunterrichts, sondern um mehr und Grundsätzliches, um „die aktuellen Herausforderungen und die uralten Fragen“ (Vorwort), auf die er keine theologischen Antworten geben, sondern auf mögliche Antworten als Pädagoge blicken will. Dazu holt er weit aus und beschreibt anthropologische, erkenntnis- und wissenschaftstheoretische und natürlich pädagogische und bildungstheoretische Einsichten. Es geht in den verschiedenen Kapiteln immer wieder um die Frage nach „Letztbegründungen“, nach der Vernunft und ihren Grenzen, und immer wieder um „Bildung“ als Ziel und Kriterium für pädagogisches Denken und Handeln. Dem inflationären Gebrauch des Begriffes „Bildung“ (Bildungsstandards, Bildungsministerium, Bildungsabschluss) setzt er immer wieder seine klare Beschreibung entgegen: „Bildung ist eine Art des Umgangs mit der Welt. Es ist die Fähigkeit, eigenverantwortlich zu denken und zu handeln.“ – Die sieben Kapitel des Buches sind bereits zuvor in verschiedenen anderen Medien erschienen, wurden für dieses Buch aber überarbeitet und aufeinander bezogen. Dennoch ist zu erkennen, dass es sich um thematisch jeweils eigenständige Annäherungen an das zentrale Thema des Buches handelt. Die Spreizung reicht von spezifischen Schul- und Bildungsthemen zu Überlegungen, wie Konfessionen miteinander umgehen können, zu Gedanken zur Postmoderne und zu grundsätzlichen Erwägungen zum Verhältnis von Religion und Politik; aber immer wieder kommt seine Absicht zum Tragen, das alles aus der Perspektive des Pädagogen zu bearbeiten. Diese Breite gibt dem Autor Gelegenheit, seine Übersicht und profunden Kenntnisse über Pädagogik, Philosophie und Literatur zu nutzen und dem Leser damit auch manche überraschende Facette zu zeigen.
„Bildung“ und „Religion“
Die Ausgangsfrage „Gehört Religion zur Bildung des Menschen?“ gibt das Thema vor. Die zentralen Begriffe „Bildung“ und „Religion“ werden in der Entfaltung des Problems von Ladenthin aspektreich und akribisch beleuchtet. „Religion“ ist für ihn letztlich der Umgang mit der Endlichkeit angesichts des Todes, die „Eigenart des Menschen, die eigene Endlichkeit zu bedenken, d. h. im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit zu denken und zu leben“, wohlunterschieden von der konkreten „Konfession“, dem „Bekenntnis“ einer Religionsgemeinschaft als die „tradierte und institutionalisierte und sich auf einen auratischen Text, auf auratische Symbole oder Riten beziehende Reflexion auf die eigene Endlichkeit“. Und „Bildung“ ist für Ladenthin das, was unverzichtbar ist, damit das Leben gelebt werden und gelingen kann, damit man es als Mensch leben kann; und so wird die Rahmung durch ein Menschenbild unverzichtbar. Darin beschreibt Ladenthin ausführlich, von welchen Grundaussagen, welchen „Axiomen“ er ausgeht, wenn er sich an die Antwort auf seine im Thema artikulierte Frage macht.
Zu dem von Ladenthin skizzierten Menschenbild gehört, dass die Allgemeine Pädagogik in einem Spannungsbogen steht: Einerseits richtet sich pädagogisches Handeln an den Einzelnen, andererseits werden im pädagogischen Handeln Geltungsansprüche sachlicher und sittlicher Art erhoben („Wahrheits- und Sollensforderungen“), die für alle Menschen gelten. Die Allgemeine Pädagogik, so Ladenthin, fragt nach dem Menschlichen am einzelnen Menschen, mit der Folge, dass Allgemeine Bildungstheorie mit einer allgemeinen Theorie des Menschen untrennbar verbunden ist. Der Schluss, den er hieraus auch zieht, lautet: Die Allgemeine Pädagogik kann Religion als unverzichtbaren Bestandteil des Bildungsprozesses nur allgemein, also als für alle Menschen geltend, begründen, oder sie ist Privatsache.
Die Elemente seiner Grundlegung stellt Ladenthin so in einen engen Zusammenhang: Religion, Bildung und Allgemeine Pädagogik sind in seinem Denken strikt aufeinander verwiesen, die Frage nach der Religion ist (auch) eine genuin pädagogische, und zwar eine, die für die Bildung aller Menschen tragend ist. Im Verlaufe seines Buches wird diese Verbindung immer wieder relevant und argumentativ eingesetzt.
Religion gehört zur Bildung
Seine anthropologischen Aussagen und Begründungen für eine allgemeinpädagogische Argumentation will Ladenthin so verstanden wissen, dass es einerseits eine unwandelbare Natur des Menschen gibt, er andererseits darauf verwiesen ist, bestimmte Inhalte in Kultur zu gestalten. Zu dieser unwandelbaren menschlichen Natur zählt er auch die Religion. Dass es ein religiöses Bedürfnis gibt, das sich in ganz unterschiedlichen Weisen äußert – in Naturreligionen, in New-Age-Konzepten, fundamentalistisch – ist für ihn (unter Bezug auf Lévi-Strauss und Hauser) erwiesen. Sie ist in allen Kulturen und Zeitaltern vorhanden, muss sich aber geschichtlich entfalten.
In seinen Ausführungen über die Religion als Motivation sittlichen Handelns bezieht er sich – wie auch in anderen Themensegmenten des Buches – auf Immanuel Kant. „Vernunft“ ist die Basis sittlichen Handelns, nicht die Vorgabe einer (Offenbarungs-)Religion. Endlichkeit und die Reflexion darüber motiviert oder demotiviert unser Handeln. Auch die Antwort auf das Fragen nach dem Sinn menschlichen Lebens gehört hierher: Nicht die Forderungen nach Wahrheit und Sittlichkeit sind allein richtungweisend für menschliches Leben, letztlich ist es die Antwort auf die Frage, wozu Menschen Wahrheit suchen und sittlich handeln sollen. Sittliches Handeln kann, muss aber nicht religiös motiviert sein. Die Suche nach solchen „Letztbegründungen“ führt Ladenthin in diesem Buch an vielen Stellen ein.
Religion gehört zur Bildung. Das ergibt sich für Ladenthin also schon aus den Ergebnissen ethnologischer und historischer Forschung, auch aus der (rationalen) Frage nach dem Motiv von Sittlichkeit. – Daneben führt er weitere Argumente an, die er zum Teil für weniger stark, dennoch für relevant hält; dazu zählen zum Beispiel vorhandene Traditionen, nicht nur, aber auch des Religionsunterrichts und die Notwendigkeit religiösen Wissens, um unsere Kultur verstehen zu können. Für die wissenschaftsorientierte Thematisierung und Reflexion der verschiedenen Aspekte des Religiösen – Kultur und Tradition, das Religiöse als Eigenheit des Menschen, die Frage nach dem Motiv von Sittlichkeit, die Endlichkeit, die Frage nach dem Sinn, die Fähigkeit, den Ist-Zustand gedanklich zu transzendieren, die Hoffnung – muss es im Bildungsprozess „des Menschen zum Menschen“ einen räumlich-zeitlich bestimmten Bereich geben, resümiert Ladenthin.
Neben dem Religiösen spielen weitere Begriffe eine wichtige Rolle in Ladenthins Menschenbild. Weiten Raum nimmt der Begriff „Hoffnung“ ein, weil sie auf Veränderung aus ist, mit Religion und Bildung eng verbunden. Die „Vernunft“ ist Basis von Fragen, von sittlichen Entscheidungen, von rationaler Thematisierung im Bildungsprozess, aber selbst auch der Kritik und der Frage nach der Begründung ihrer Geltung ausgesetzt. („Vernunft kann man nicht begründen. Wir können keine vernünftigen Gründe angeben, warum es vernünftig ist, vernünftig zu sein“, so Ladenthin in dem Kapitel „Konfessionelle Schulen in der Postmoderne – und danach“.) Die Frage nach dem Sinn wird von der Vernunft gestellt, sie ist allgemein. Die Antwort auf die Frage kann jedoch nicht allgemeingültig sein, sie ist Glaubenssache; daher kann es keinen allgemeinen Religionsunterricht, sondern nur einen der Glaubensgemeinschaften geben.
Religiöse Bildung ist nicht identisch mit Religionsunterricht als Schulfach, sie ist zunächst die eindringliche und ausdrückliche Frage im Bildungsprozess nach dem Sinn unseres Tuns; hierzu „muss“ es eine Gelegenheit geben. Das Fach Religion gibt hierfür einen organisatorischen Rahmen.
Welcher Religionsunterricht?
Wie schon gesagt: Ladenthin hält den an die Praxis von Glaubensgemeinschaften angebundenen und verankerten Religionsunterricht für die einzige Möglichkeit, ihn im Sinne einer religiösen Bildung zu realisieren. Es gibt zwar gemeinsame Antworten unterschiedlicher Konfessionen auf die Frage nach dem Sinn, die bilden aber (nur) etwas Gemeinsames, nicht etwas Allgemeines. So ist zum Beispiel Hans Küngs Versuch einer Weltethik zu verstehen, für Ladenthin neben anderen Indikatoren von Gemeinsamem eine weitere Bestätigung der anthropologischen Fundierung des Religiösen.
Wie aber stellt sich der Staat zum Religionsunterricht? Da findet Ladenthin gegenwärtig mindestens vier verschiedene Organisationsformen vor, die er im Anschluss an Marian Heitger listet:
- Vom Staat eingerichteter Religionsunterricht als ordentliches Schulfach, dessen Auftrag er den anerkannten Religionsgemeinschaften überlässt.
- Vom Staat eingerichteter und von ihm ausgefüllter Unterricht, der dem Fach Religion entspricht (LER)
- Ein Alternativangebot des Staates zum Religionsunterricht (z. B. Ethik) mit der Möglichkeit, Religion oder Ethik zu wählen
- Kein Religionsunterricht als vom Staat organisiertes Schulfach, statt dessen Verantwortung der Glaubensgemeinschaften und der Familie für die religiöse Bildung
Ladenthins Antwort ist und kann nach den skizzierten Argumentationslinien nur sein, dass der Staat zur Einrichtung von Religionsunterricht verpflichtet ist, weil Religion eben nicht Privatsache ist. „Die Frage nach der Religion stellt sich dem Gläubigen und dem Nichtgläubigen, zum Beispiel dem Christen und dem Nichtchristen, aus der Sicht der Allgemeinen Pädagogik gleich.“ Formen des Religionsunterrichtes wie dem „Religionsunterricht für alle“ der staatlichen Hamburger Schulen erteilt er damit eine klare Absage.
Der Umstand, dass es unterschiedliche Konfessionen (also verschiedene konkrete Religionsgemeinschaften) gibt, führt Ladenthin zu der Überlegung, wie sich die Bildungstheorie auf die „multikonfessionelle Weltgesellschaft“ beziehen kann. Hierzu spannt er einen weiten Bogen, in den er Hermann Hesse, Immanuel Kant und Gustave Flaubert einbezieht und mit Textbeispielen illustriert. Kenntnis- und facettenreich entwickelt er die Analogie als Möglichkeit der Interaktion zwischen den Konfessionen. Das analoge Verstehen sei für den Religionsunterricht von erheblicher Bedeutung, so sein Schluss, speziell in den Situationen, in denen ein monokonfessioneller Religionsunterricht aus organisatorischen Gründen nicht stattfinden kann. Das sei aber nicht durch Religionskunde zu leisten, neue Formen religiösen Lehrens und Lernens seien verlangt.
Konfessionelle Schulen
Einen anderen Zugang zur Aufgabe religiöser Bildung bieten die konfessionellen Schulen, von Ladenthin am Beispiel der katholischen Schulen aufgezeigt. Ausgangspunkt ist der Gedanke, dass „allseitige“, den ganzen Menschen betreffende Bildung nicht auf vorgegebene Zwecke normiert, sondern daraufhin erzieht, sich selbst Zwecke setzen zu können. Wenn Zeitgeist oder „sich allwissend dünkender Staat“ etwas zu vernachlässigen oder zu erzwingen drohen, sieht Ladenthin diese Schulen gefordert. Als Beispiel wird etwa eine Standardisierung von Bildung genannt, der katholische Schulen den individuellen Charakter von Bildung entgegen setzen, auch der verengte Bildungsbegriff von PISA, dem in katholischen Schulen Wertschätzung musischer Angebote gegenüber steht, oder die in Teilen der Gesellschaft verbreitete Geringschätzung von Naturwissenschaften, für deren Förderung katholische Schulen stehen können. Nicht eine auf instrumentelle Vernunft verkürzte Ausbildung, sondern die Bildung des ganzen Menschen ist Aufgabe und Ziel katholischer Schulen. Sie können darauf verweisen, dass Verwertbarkeit nicht die einzige Perspektive auf die Wirklichkeit ist.
Für Ladenthin folgt daraus, dass Bildung nicht auf den Erwerb von Kompetenzen reduziert werden kann, womit er gegen die in den letzten zehn Jahren im Gefolge von PISA entwickelten Kernlehrpläne und auch Bildungsstandards Stellung bezieht. Auch die Reduktion von (wissenschaftlichem) Wissen auf Mathematik und Empirie bzw. Verstand ist für ihn eine Verkürzung; er stellt die Frage nach der Legitimation einer solchen Auffassung von Wissen. Auch hier kommt wieder die „Letztbegründung“ ins Spiel, denn die Entscheidung für Mathematik und Empirie vertraut einem Urteil über die Verfasstheit der Welt, das selbst wieder legitimiert werden muss, aber nicht durch das Instrument legitimiert werden kann, das es legitimieren soll. Den Glauben hier als Motiv einzubringen, ist Aufgabe katholischer Schulen.
In Fragen der sittlichen Erziehung ist Normierung ebenfalls nicht sinnvoll möglich. Sittlichkeit ist an Freiheit gebunden, zudem gibt es für Ladenthin keine spezifisch katholische Sittlichkeit, „weil der Anspruch der Sittlichkeit es ja gerade ist, alle Menschen als Menschen anzuerkennen“. Sittliche Urteile müssen immer vernünftig begründet sein. Keinesfalls können aus einem geoffenbarten Glauben ethische Maximen abgeleitet werden; aus dem Glauben kann allerdings die Motivation erwachsen, die ethische Frage überhaupt zu stellen, und sich an die eigenen Urteile zu halten. („Das sittliche Urteil kann nicht unter normativer Anerkennung einer Voraussetzung erfolgen, sondern ist gerade das Urteil darüber, was als Voraussetzung anzuerkennen sei.“) Bei den staatlichen Schulen sieht Ladenthin hier eine Legitimationslücke.
Spezifische Vorteile kann Ladenthin ebenfalls in den Regeln für ein Miteinander aus dem Glauben sehen, in der Sorge um und für den anderen. Letztlich versteht er die katholische Schule als Schule von Katholiken, als Gemeinschaft von Gläubigen, die auf christliche Weise den Umgang miteinander und den Umgang mit Menschen außerhalb ihrer Gemeinschaft gestalten. So ergeben sich aus dem Verständnis von Menschen in ihrer Gottesebenbildlichkeit für Ladenthin erhebliche – auch bildungspolitische – Konsequenzen: Katholische Schule kann nicht vom Output her, sondern nur von der Person her verstanden werden.
Resümee
Ladenthin legt in diesem Werk Gedanken vor, die gewiss nicht dem aktuellen Mainstream von Pädagogik, erst recht nicht der Schulpolitik folgen. Es ist ein Buch, das aus einer Perspektive geschrieben ist, die wir aus vielen Veröffentlichungen Ladenthins kennen und ein Gedankengebäude enthält, das sowohl in der Pädagogik als auch im Handeln der staatlichen und kirchlichen Institutionen fruchtbar werden kann.
Eine Perspektive setzt einen Standpunkt voraus. Ladenthin beschreibt nicht einfach Sachverhalte, er bezieht Stellung. Das zeigt sich im Bildungsbegriff ebenso wie im Menschenbild, die leitenden Begriffe wie „Person“, „Freiheit“, „Sinn“, „Vernunft“, „Glaube“ rahmen seine christliche Orientierung als Pädagoge; an vielen Stellen wird dies kenntlich, nicht zuletzt auch in den Kapiteln über die päpstliche „Erklärung über christliche Erziehung“ und über das „Verhältnis von Religion und Politik“. Die konsequente gedankliche Durchdringung, die Unterscheidung von Begründungen, die im Letzten der Glaube setzen muss, weil die Fragen nach dem „Warum“ in der Tautologie enden, von der logischen Ableitung und folgenden Bewertung machen den Charakter des Buches aus.
Wer sich zum Lesen entschließt, muss sich auf einen Weg einstellen, der nicht immer einfach zu gehen ist, aber Ladenthins Anliegen leidenschaftlich, schlüssig, klar in der Gliederung und mit verständlicher Sprache vermittelt.