Sitzenbleiberelend – Dieser Begriff ist Teil des Titels eines Buches, das von Artur Kern in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts erstmals und anschließend in mehreren Auflagen veröffentlicht wurde.
Artur Kern: Sitzenbleiberelend und Schulreife – ein psychologisch-pädagogischer Beitrag zu einer inneren Reform der Grundschule. Herder-Verlag Freiburg, 1951. 133 Seiten
Hier ein Ausschnitt aus dem Inhaltsverzeichnis.

Nicht nur in der Grundschule, für die sich Artur Kern stark machte, auch in den weiterführenden Schulen spielt das Sitzenbleiben, die Nichtversetzung eine große Rolle. Kinder leiden darunter, ganze Familien zittern den Zeugnissen entgegen, wenn der berüchtigte blaue Brief oder das schwache Halbjahreszeugnis dieses Unglück angekündigt hat. Und wenn es dann geschehen ist, leiden Kinder und Eltern. Das Selbstwertgefühl des Kindes wird schwächer. Es muss sich aus den sozialen Bindungen des alten Klassenverbandes lösen und sich in einen neuen integrieren. Eltern und Kinder spüren einen Makel. Vor den Nachbarn, Verwandten und Freunden kann man das Sitzenbleiben nicht verbergen. Die Beteiligten sind öffentlich stigmatisiert oder fühlen sich so.
Wussten Sie schon, dass etwa 25 Prozent aller Schüler wenigstens einmal im Leben nicht versetzt wurden? Etliche Prominente gehören dazu: Peer Steinbrück, Thomas Mann, Harald Schmidt, Otto Waalkes. Einige von ihnen haben sogar zwei Ehrenrunden gedreht. Und wussten Sie, dass die Forscher der Meinung sind, dass diese Einrichtung wenig effektiv ist, sondern unnötiges Leiden verursacht?
„Eine der Tiefenanalysen des Schulsystems vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zeigte, dass vor allem zwei Ursachen für das niedrige Leistungsniveau an deutschen Schulen verantwortlich sind: das gegliederte Schulsystem (inklusive der „Abschulung“ von leistungsschwachen Schülern zum Beispiel vom Gymnasium in die Realschule) und das Sitzenbleiben. Die reine Sitzenbleiberquote lag in Deutschland durchschnittlich bei 24 Prozent, im Westen des Landes bei über 30 Prozent (mit Spitzenwerten in Bremen und Schleswig-Holstein), im Osten bei knapp 15 Prozent.“ [1]
Warum gibt es das Sitzenbleiben? Gibt es Alternativen? Wie sehen diese aus?
Diesen Fragen wollen wir in einigen Beiträgen einmal nachgehen.
Johann Amos Comenius und die Jahrgangsklasse
Ein wichtiger Theologe und Pädagoge aus Mähren hatte es sich im 17. Jahrhundert zur Aufgabe gemacht, Kinder aller Volksschichten zu beschulen. Jungen, Mädchen, Arme, Reiche, Kluge und weniger Kluge – für alle sollte es eine einheitliche Schulpflicht und Bildung bis zum 12. Lebensjahr geben. War die Schule jahrhundertelang eine elitäre Angelegenheit für Adel und Klerus, so lautete ein Grundsatz von Comenius, der bis heute immer wieder zitiert wird: omnes omnia omnino excoli – alle alles mit Blick auf das Ganze lehren. „Alle lehren“ heißt grundsätzlich, alle Kinder in der Schule zu unterrichten, „alles lehren“ heißt, das zu unterrichten, was wir heute unter Allgemeinbildung verstehen, „mit Blick auf das Ganze lehren“ soll heißen, im Sinne des Ganzen zu unterrichten.
Wenn man aber alle Kinder unterrichten wollte, musste man eine Organisationsform finden, die das ermöglichte. Diese Form fand man in der Jahrgangsklasse, in der (fast) alle Kinder eines Geburtsjahrgangs zusammengefasst wurden – übrigens in der irrigen Annahme, dass diese Kinder schon etwa gleich gut und schnell lernen. Man führte sie zusammen mit der allgemeinen Schulpflicht im 18. und 19. Jahrhundert ins öffentliche Schulwesen ein, soweit es notwendig wurde. In den Schulen auf dem Lande, den später sogenannten „Zwergschulen“, blieb es bei altersgemischten Klassen, in Deutschland bis zur Schulreform 1968. Auch Schulen in freier Trägerschaft, zum Beispiel Montessorischulen und Jenaplanschulen, hatten und haben andere Organisationsformen. Davon später mehr.
In größeren Schulen wurden in früheren Jahrhunderten durchaus 100 Kinder in einer Jahrgangsklasse zusammengefasst; Comenius fand das durchaus angemessen, setzte aber auch schon Möglichkeiten der inneren Differenzierung zur Gliederung einer so großen Schülerschar ein, indem er sie in Zehnergruppen unterteilte.
Das „Sitzenbleiben“
Wenn ein Kind mit seiner Klasse nicht mithalten konnte, interpretierte man dies als langsamere Entwicklung, so dass es im Rahmen der folgenden Jahrgangsklasse unterrichtet wurde und die Unterrichtsinhalte erneut vermittelt erhielt. Weil die Klassenräume fest installierte Tische und Bänke hatten und die Kinder von Jahr zu Jahr größer wurden, bezogen sie in jedem Schuljahr einen anderen Raum. Diejenigen, die die Klasse wiederholten, blieben in dem bisherigen Raum – sie „blieben sitzen“. Die anderen gingen in den nächsthöheren Klassenraum, sie wurden „versetzt“.
Im Laufe der Zeit wurde das System Schule insgesamt verfeinert, auch das System des Sitzenbleibens oder der „Nichtversetzung“ versus „Versetzung“.
Den gegenwärtigen Stand schauen wir uns für die Realschule in Nordrhein-Westfalen an:
§ 26
Besondere Versetzungsbestimmungen für die Realschule
(1) Eine Schülerin oder ein Schüler wird auch dann in die Klassen 7 bis 10 versetzt, wenn die Leistungen
1. in nicht mehr als einem der Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch, Fach des Wahlpflichtunterrichts mangelhaft sind und die mangelhafte Leistung durch eine mindestens befriedigende Leistung in einem anderen Fach dieser Fächergruppe ausgeglichen wird,
2. in nicht mehr als einem der Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch, Fach des Wahlpflichtunterrichts mangelhaft sind, diese mangelhafte Leistung durch eine mindestens befriedigende Leistung in einem anderen Fach dieser Fächergruppe ausgeglichen wird sowie in einem der übrigen Fächer nicht ausreichend sind,
3. in nicht mehr als einem der übrigen Fächer nicht ausreichend sind oder
4. zwar in zwei der übrigen Fächer nicht ausreichend, darunter in einem Fach mangelhaft sind, aber dies durch eine mindestens befriedigende Leistung in einem Fach ausgeglichen wird.
(2) In Klasse 6, in der Realschule in der Aufbauform in Klasse 7, sind die in der zweiten Fremdsprache erbrachten Leistungen nicht versetzungswirksam, können aber zum Ausgleich herangezogen werden. Ab Klasse 7, in der Realschule in der Aufbauform ab Klasse 8, sind sie uneingeschränkt versetzungswirksam.
Wer das liest und anwendet, braucht ein gutes Gedächtnis. Warum diese Regelungen exakt so sind, ist nicht nachvollziehbar. Wer zum Beispiel in Deutsch und Englisch nicht zurecht gekommen ist, also mit „mangelhaft“ oder „ungenügend“ bewertet wurde, muss nicht nur diese Fächer wiederholen, sondern auch Mathematik, Sport und alle anderen. (Von der Möglichkeit des Ausgleichs oder der Nachprüfung sehen wir an dieser Stelle einmal ab, um es nicht zu kompliziert zu machen.)
Das Schulsystem, das heißt hier: der Staat, geht bei der Nichtversetzung großzügig mit der Lebenszeit der Kinder um und mindestens ebenso großzügig mit dem Geld der Steuerzahler. Lehrerstellen gibt es nämlich für eine Schule nicht auf der Basis der Klassenzahl, sondern aufgrund der Schülerzahl. Die nichtversetzten Schüler bleiben häufig ein Jahr länger in der Schule; für diese längere Schulzeit müssen Lehrer zur Verfügung stehen und bezahlt werden. Verschiedene Kostenrechnungen kamen auf ungefähr 1 Milliarde Euro zusätzlichen Finanzaufwand pro Jahr wegen der Institution „Nichtversetzung“.[2]
Nur wenige Fälle gibt es, die eine Klassenwiederholung sinnvoll erscheinen lassen: eine längere Abwesenheit des Kindes vom Unterricht, zum Beispiel wegen eines Unfalls oder einer Erkrankung. Dies wird in besonderen Fällen in Übereinstimmung zwischen Schule und Eltern ja auch praktiziert.
Eine erste Alternative
Rechtzeitig Förderunterricht für betroffene Kinder einer Klasse anzubieten, in dem auf die individuellen Schwächen eingegangen wird, ist sinnvoller, als diese Kinder ohne weitere Unterstützung dieselbe Klassenstufe noch einmal in Gänze durchlaufen zu lassen – vielleicht mit dem gleichen Ergebnis wie beim ersten Durchgang, weil im konkreten Fall nicht eine Entwicklungsverzögerung der Grund ist, sondern zum Beispiel eine Teilleistungsstörung wie Legasthenie oder eine Konzentrationsschwäche oder eine länger dauernde Belastung in der Familie, von der die Schule nichts weiß. Hier würden andere Fördermöglichkeiten ausgelotet werden müssen: Besonderer Förderunterricht in Lesen und Schreiben, Konzentrationstraining, psychosoziale Beratung und Unterstützung.
Weitere Möglichkeiten, das Sitzenbleiben zu vermeiden, werden in
den nächsten Posts vorgestellt.
[1] https://www.heise.de/tp/features/Hilft-das-Sitzenbleiben-in-der-Schule-3398027.html
[2] vgl. ebenda
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