Laschet, Gebauer und die Schulpolitik in NRW

Gepostet von

Als Armin Laschet mit seiner CDU die Landtagswahl 2017 überraschend gewann, machten viele Analysten die Schulpolitik der Vorgängerregierung dafür mitverantwortlich. Diese Interpretation hatte einige Plausibilität. Vor allem die Inklusion war ein rotes Tuch für viele. Unruhe gab es auch wegen G8, also der Einführung des achtjährigen Gymnasiums. In diesem Punkt war der Wähler vergesslich: G8 war zwar von einer CDU/FDP-Regierung eingeführt worden, die Probleme wurden aber der rot-grünen Regierung angelastet. Nicht so nachdrücklich, aber latent vorhanden war eine Unzufriedenheit mit dem Thema Rechtschreiben in der Grundschule.

G9 zu G8 zu G9

In einer Erklärung zu den Erfolgen seiner Landesregierung hat Ministerpräsident Armin Laschet neulich die FDP, insbesondere seine Schulministerin Yvonne Gebauer, gelobt. Sie habe mit der Einführung von G9 an den Gymnasien für Ruhe gesorgt. Das ist zwar für ihn sicher ein gutes Ergebnis, entlarvt sein Verständnis von politischen Zielen aber gleich mit. Ruhe war im 19. Jahrhundert die erste Bürgerpflicht, heute darf man auch schon mal kontrovers über die fachliche Seite nachdenken. 1806 ging es um die Niederlage in Jena und Auerstädt, da hatte das preußisch-sächsische Heer gegen Napoleons Armee verloren, heute geht es um Fragen wie „Was ist pädagogisch sinnvoll“ und „Was ist gesellschaftlich angezeigt“.

Hin zu G8

Pädagogisch und gesellschaftlich unsinnig ist in jedem Fall das Vorgehen nach dem Muster der Echternacher Springprozession: drei Schritte vor und zwei zurück. Man führt unter Schmerzen G8 ein, muss die innerschulische Organisation anpassen, die für die Reifeprüfung notwendigen Pflichtstunden in acht Schuljahren unterbringen, und davon sind dann schon Schüler in der Sekundarstufe I betroffen. Richtlinien, Lehrpläne und Schulbücher müssen angepasst werden; Schulträger haben andere Vorgaben für Raumzahlen und Ausstattung, müssen auch die Fahrpläne der Schulbusse erweitern; die Schulen kommen nun mit weniger Lehrkräften aus, so dass die Zahl der Lehrerstellen im Haushalt sinken konnte.
All das führte zu Verwerfungen in den Systemen, damit zu Unzufriedenheit – vor allem bei den Eltern. Allerdings: Erstaunliche viele Schulleiter plädierten einige Jahre nach der Einführung für die Beibehaltung von G8.

Zurück zu G9

Wegen des demographischen Wandels sind auch manche Gymnasien im Überlebenskampf, daher wuchs angesichts des Unmuts in den Schulen Nordrhein-Westfalens der Wunsch, zu G9 zurückzukehren. Dass nach nur einem Jahrzehnt die gleichen Unruhefelder bei diesem wiederum einschneidenden Eingriff in die schulischen Abläufe entstehen würden, war klar. Daher griff die Schulministerin zu einem Trick, der auch in anderen Konflikten funktionierte: Sie stellte die Rückkehr zu G9 in das Belieben der schulischen Gremien der einzelnen Schulen; damit konnte sie die Verantwortung für jede Schwierigkeit dorthin verlagern. Die Lehrer, die man einsparte, fehlen jetzt; die Räume, die bei Renovierungen oder Neubauten eingespart wurden, müssen von den Schulträgern nachgeliefert werden. Und die Anpassung von Lehrplänen, Richtlinien und Organisation bindet erneut Ressourcen.

Sonderrolle Ostdeutschland

Fast alle östlichen Bundesländer haben das Thema mit sehr viel mehr Gelassenheit behandelt: Aus der DDR kannten sie die zwölfjährige Schulpflicht, hatten also schon G8 in den Gymnasien, als die große PISA-Aufregung im Jahr 2000 begann. Und als im Westen die Unruhen wegen der Umstellungsprobleme von G9 zu G8 aufkamen, schauten sie nur verwundert zu. Und das Zurückdrehen der Uhr zu G9 machen sie offenbar auch nicht mit, weil sie mit ihrem Schulwesen bei vielen empirischen Untersuchungen zum Schulerfolg respektabel abschnitten und immer noch abschneiden.

Meine Meinung

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: G9 halte ich grundsätzlich für ein gutes Konzept, weil es dem Bildungsprozess mehr Zeit gibt, zumindest geben kann. Das setzt voraus, dass die Zeit sinnvoll genutzt wird – und nicht wegen der Korrektur von Abitur-Klausuren und ähnlich wichtigen Dingen schon lange vor dem Ende des Schuljahres vertändelt wird.
G8 ist in den Bundesländern unterschiedlich organisiert worden. Manche haben die gymnasiale Oberstufe auf zwei Jahre reduziert (z. B. in Hamburg), andere lassen die gymnasiale Oberstufe schon in der 10. Klasse beginnen (z. B in NRW). Das führt wieder zu Friktionen, wenn ein Schüler das Bundesland wechselt.

Inklusion – ein Missverständnis?

Immer wenn die Rede auf Inklusion kommt, stelle ich bei meinen Gesprächspartnern ein seltsames Missverständnis fest. Wie, so fragen sie meistens, solle denn ein Lernbehinderter oder gar ein geistig Behinderter in einer Regelschule „mitkommen“?

Wenn ich dann antworte, ob sie etwa gegen Rampen für Schüler im Rollstuhl oder gegen eine technische Unterstützung schwerhöriger Schüler seien, bekommen meine Gesprächspartner große Augen; natürlich finden sie diese Art von Inklusion völlig in Ordnung.

Nicht jeder Schüler kann eine Regelschule besuchen

Natürlich gibt es Schüler jedweder Behinderungsart, die nicht in eine konkrete Regelschule, vielleicht auch in überhaupt keine Regelschule, aufgenommen werden können. Das war und ist auch gar nicht vorgesehen. Natürlich kann eine Schülerin oder ein Schüler nur in eine Schule aufgenommen werden, die sie oder ihn auch fördern kann. Und ebenso natürlich sollte jede Schule über ein Spektrum an Differenzierung und Individualisierung im Unterricht verfügen, sowohl was Materialien wie auch Personal angeht. Schulen, die Schüler mit einem von der Schulaufsicht festgestellten besonderen Förderbedarf aufnehmen, haben übrigens das Recht auf Begleitung durch eine sonderpädagogische Lehrkraft, oft auch auf andere personelle Ressourcen.

Die Lehrkräfte an den Regelschulen haben eine besondere Haltung gegenüber Schülern mit einem Förderbedarf in emotionaler oder sozialer Entwicklung (früher Erziehungshilfe). Hier fühlen sie sich am ehesten überfordert; Eltern, Lehrer und Mitschüler fürchten, dass ein Kind oder Jugendlicher mit diesem Förderschwerpunkt den Unterricht zu sehr, zu häufig und unkontrollierbar stört. Aber auch hier ist es eine Entscheidung der Schulaufsicht in Abstimmung mit den Eltern, den beteiligten Schulen und deren Schulträgern, welche Schule – Regelschule oder Förderschule – in Frage kommt.

Förderschulen schließen oder wiederbeleben?

Für viel Aufregung hat die Vorgängerregierung gesorgt, als sie Förderschulen schließen ließ, gerade auch im Bereich des Förderschwerpunktes Lernen (früher Lernbehinderung). Auch hier ist es zu einem Rollback gekommen: Nach kurzer Zeit schon wurden Entwicklungsschritte kassiert, soeben geschlossenen Schulen wurde die Wiederaufnahme des Betriebs in Aussicht gestellt.
Natürlich braucht man Förderschulen weiterhin; die Frage, die man sachlich diskutieren muss, lautet: Wie viele, wo und welche Art von Förderschulen braucht man?

Meine Meinung

Inklusion ist ein bindender Auftrag – die Bundesrepublik Deutschland ist hier wie viele andere Staaten auch eine Verpflichtung eingegangen. Deshalb muss der Staat alles versuchen, die Rechte der Behinderten zu gewährleisten. Das gilt übrigens für alle Lebensbereiche, nicht nur für die Schule, auch für die Arbeitswelt, den Sport, die Kultur und mehr.

Die Probleme liegen oft im fehlenden sonderpädagogischen Personal, in der fehlenden verpflichtenden Fortbildung der Lehrkräfte in den Regelschulen und in der Ausstattung der Regelschulen. Wichtig ist auch die Unterscheidung von Stadt und Land. Dort, wo die Schulen näher beieinander liegen – in der Stadt also -, kann man leichter einen passenden Förderort finden als in spärlich besiedelten Gebieten. Diese Fragen müssen geklärt, diese Probleme gelöst werden. Der Fehler der rot-grünen Regierung war nicht das Vorhaben „Inklusion“, sondern die Einführung, ohne den Boden zu bereiten, ohne die nötigen Voraussetzungen und damit die erforderliche Akzeptanz zu schaffen.

Förderschulen sind für manche Kinder die bessere Lösung. Aber jedes Kind mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf hat ein Anrecht auf Prüfung, ob eine Regelschule für es infrage kommt.

Und nun?

  1. Es muss ein Ende haben mit gegenläufigen Entwicklungsschritten.
    Jede neue Regierung sollte fair mit den Entscheidungen der Vorgänger umgehen und auf Rechthaberei verzichten. Schulen brauchen Verlässlichkeit, nicht verbohrtes Zurückdrehen gerade erst eingeführter Innovationen. Das schließt vorsichtige Korrekturen nicht aus.
  2. Schulen arbeiten in langfristigen Zyklen.
    Wenn ein Kind eingeschult wird, hat es zehn Jahre Vollzeitschulpflicht vor sich, die planvoll gestaltet werden müssen. Immer wieder Brüche in der Schullandschaft zu produzieren, ist ein Vergehen gegen den Anspruch der Kinder und ihrer Eltern auf verlässliche Entwicklung. Schulbücher, Unterrichtswerke Lehrpläne und Zielbeschreibungen von Schulen sind auf Dauer angelegt. Ein Schulbuch, das für die Klassen fünf bis zehn eingeführt wird, braucht von der Entscheidung der Schule zur Einführung in Klasse fünf bis es in der zehnten Klasse angekommen ist wenigstens sechs Jahre. Wenn es auch noch um veränderte Anforderungen an die Lehrkräfte geht, dann dauert die Implementation durch Aus- und Fortbildung kaum weniger lange. Hält man die Dauer einer Legislaturperiode dagegen, dann sind deren vier oder fünf Jahre Dauer vergleichsweise kurz.
    Schulen brauchen Verlässlichkeit und Vertrauen in ihre Arbeit und nicht ständigen Wechsel zwischen Hü und Hott.
  3. Wir leben in einer parlamentarischen, nicht in einer direkten Demokratie.
    Sachverhalte sind komplexer als viele meinen, die gerne Volkes Meinung zu jedem Thema umsetzen wollen. (Ein besonders gelungenes Beispiel ist der Brexit, ein Thema, dessen Komplexität die meisten Briten nicht kannten, als sie abstimmten.) Wir haben durch Wahlen Abgeordneten das Vertrauen ausgesprochen, komplexe Sachverhalte zu bearbeiten und nach dem eigenen Gewissen zu entscheiden. Wer dieses Vertrauen nicht aufbringt, sollte selbst Politiker werden.
    Politiker allerdings, die meinen, wenn eine Interessengruppe hinreichend laut wird, müsse man im Sinne direkter Demokratie darauf eingehen, haben ihren Auftrag verfehlt. Wir dürfen von ihnen erwarten, dass sie auch gegen den Wind segeln, wenn sie von einer Haltung überzeugt sind. Alles andere nennt man landläufig Populismus. Dazu zähle ich auch das Umgehen der gegenwärtigen Landesregierung mit Inklusion und G8.