PISA ist nicht das Maß für die Schule

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Was ist PISA?

PISA ist ein Test von Schülern gegen Ende der Sekundarstufe I. Nicht Jahrgangsstufen, sondern eine Altersstufe wird getestet. Die PISA-Studien werden von der OECD, einer Organisation mit dem deutschen Langnamen Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung  als internationale Schulleistungsuntersuchungen durchgeführt. Seit dem Jahr 2000 und danach in einem dreijährlichen Turnus nehmen Mitgliedstaaten der OECD und weitere Länder daran teil. PISA ist die Abkürzung für Programme for International Student Assessment (Programm zur internationalen Schülerbewertung).

Näheres zu Anlage und Ergebnissen von PISA 2018 kann man hier nachlesen.

Was misst PISA und was nicht?

Gemessen werden Lesekompetenz, mathematische Kompetenz und naturwissenschaftliche Kompetenz. Bei jeder Studie wechseln diese Schwerpunkte. 2018 wie schon 2009 war die Lesekompetenz an der Reihe. Mit Lesekompetenz ist nicht Lesen wie bei einem Vorlesewettbewerb gemeint, sondern die Entnahme und das Verständnis des Sinns aus Texten, aber auch aus Diagrammen, Tabellen und mehr.
Daneben gibt es immer wieder auch spezifische Fragen, die die PISA-Studien klären sollen, zum Beispiel, wie die deutschen Bundesländer im einzelnen und damit im Vergleich innerhalb Deutschlands abschneiden oder ob geschlechtsspezifische Unterschiede in den Ergebnissen zu finden sind und gegebenenfalls welche .

Die OECD ist eine Organisation mit wirtschaftlichen Zielsetzungen. Die drei Felder, die getestet werden, sind für das Arbeitsleben nützliche. Den ökonomischen Nutzen zu mehren ist das Ziel der OECD wie der PISA-Studien. (Das ist nicht verwerflich, man muss es aber wissen.)

Das vorgegebene Ziel der PISA-Studien ist, die Qualität der Schulsysteme zu erforschen. In Wirklichkeit testet man aber Schülerleistungen.

PISA misst nicht die Kompetenzen der Schüler in folgenden Bereichen oder Schulfächern: Verfassen von Texten, Rechtschreiben, (Fremd-)Sprachen, Geographie, Religionslehre, Ethik, Musik, Kunst, Literatur, Sport, Technik und mehr. Die Gefahr ist daher groß, dass die Bundesländer ihre Bemühungen und die Ressourcenzuteilung auf die Fächer konzentrieren, die in PISA-Studien getestet werden, während andere – für die Bildung nicht minder wichtige – das Nachsehen haben. Angesichts der überschießenden Bedeutung, die die Öffentlichkeit den PISA-Ergebnissen zuschreibt, werden aus besseren Ergebnissen letztlich Wählerstimmen – hofft man.
Auch Lehrkräfte könnten in den entsprechenden Klassen ihre Aktivitäten verstärkt auf die Steigerung der Leistungen in den PISA-Test-Fächern ausrichten. Im Fachjargon heißt das „teaching for the test“.

Pisa misst auch nicht Schülerleistungen in den Grundschulen, in den Berufsschulen oder den Sekundarstufen II der allgemeinbildenden Schulen. Auch von daher ist es verwegen, auf die Leistung eines ganzen Schulsystems zu schließen, wenn man nur die Fünfzehnjährigen testet.

Aus den Leistungen der Schüler die Qualität des Systems abzuleiten, ist im Übrigen nicht einfach. Als zum Beispiel im Jahr 2016 viele Kinder von Migranten mit geringen Deutschkenntnissen in die Schulen kamen, beeinträchtigte das nicht die Leistungen der bisherigen Schüler, aber dennoch die Durchschnittswerte aller Schüler des Systems, ohne dass sich dies verändert hätte. Die Bedeutung anderer Komponenten für die Qualität des Schulwesens (Schulleiter, Lehrkräfte, Schulträger, Ausstattung, geographische Lage und viel mehr) wird nicht angemessen gewürdigt. Schulqualität ist ein hochkomplexes Gebilde.

PISA misst nicht die eigentlichen Schulerfolge, sondern vom Inhalt der Lehrpläne weitgehend unabhängige Kompetenzen. Andernfalls wären die Ergebnisse nicht vergleichbar, denn die Inhalte der Lehrpläne sind unterschiedlich, auch weil sie in unterschiedlichen kulturellen Welten unterrichtet werden. Natürlich kann man Kompetenzen, also dauerhafte Fähigkeiten als Leistungsvoraussetzung, nicht direkt testen, sie müssen in Situationen angewandt werden. Dabei spielen dann auch Inhalte, Wissen und Können eine Rolle. Es gibt eine Reihe verschiedener Versuche, „Kompetenz“ zu definieren. Die jeweilige Bedeutung hängt auch von dem Fachgebiet ab, in dem der Begriff verwandt wird, also in der Pädagogik anders als in der Wirtschaft, dort wieder anders als in der Psychologie. Im Zusammenhang mit PISA ist die Kompetenz-Definition des Psychologen Franz Weinert relevant geworden: „Kompetenzen“ sind demnach

… die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.

Weinert, Franz E. (Hrsg.): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel (Beltz), 2001: 27 f

Wenn man den letzten Teil dieser Definition – „verantwortungsvoll nutzen zu können“ – ernst nimmt, dann gibt es eine große Nähe zum Bildungsbegriff der Bildungstheorie in der Erziehungswissenschaft. Zu beachten ist allerdings, dass „verantwortungsvoll nutzen“ von Weinert als Zweck, nicht als Teil der Kompetenz beschrieben ist.

Mollenhauer gebraucht auch den Begriff „Zweck“, wenn er sagt:

Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, dass Erziehung und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjekts haben.

Mollenhauer, Klaus: Erziehung und Emanzipation. München (Juventa), 1971, S. 10

Mit anderen Worten findet man bei Beyer eine weitere dazu passende Beschreibung. Er bezieht sich im weiteren Text ebenso wie viele andere Autoren auf das Selbstbestimmungsrecht und die Unverfügbarkeit von Menschen.

Die zentrale Aufgabe von Schule und Unterricht besteht darin, den Schülern Bildungsprozesse zu ermöglichen, ihr Handeln in vernünftiger Weise selbst zu bestimmen.

Beyer, Klaus: Das prozessbezogene Verständnis des Begriffs „Bildung“, in: Püttmann, Carsten (Hrsg.): Bildung. Hohengehren (Schneider), 2019. S. 55

Die Deutsche Bischofskonferenz äußerte sich 2004 so zu PISA mit einem ähnlich formulierten Bildungsverständnis:

Bildung als Fähigkeit und Bereitschaft, individuelles Handeln verantwortungsvoll und sinnvoll planen und gestalten zu können und zu wollen, lässt sich weder messen noch standardisieren.

Text der Kommission VII (Schule) der Deutschen Bischofskonferenz, am 1.7.2004 als Vorlage für eine Presseerklärung verabschiedet

Kritik an PISA

Hier wird schon erkennbar, wo die Kritik an den PISA-Studien grundsätzlich ansetzt: Sie messen keine Bildung, die zusammen mit der Erziehung den Kernauftrag der Schule bildet. Es geht bei den Tests nicht um verantwortungsvolles Handeln, nicht um Selbständigkeit und auch nicht um Mündigkeit. Den entsprechenden Teil von Weinerts Kompetenzbegriff nimmt die OECD nicht in ihre Tests auf – weil man Mündigkeit und Verantwortungsgefühl nicht testen kann. – Was man testen kann und handwerklich ordentlich macht, sind Leistungen.

Manche Staaten werfen der OECD vor, ausschließlich utilitaristisch, also an Nützlichkeit orientiert, zu testen. Kulturelle Unterschiede zwischen den vielen Staaten, die Komplexität von nationalen Schulsystemen und andere Faktoren blieben unberücksichtigt, heißt es. Die Fachwelt, Erziehungswissenschaftler wie Statistiker, haben fachliche Einwände, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden sollen.

Reaktionen auf PISA

… in der Öffentlichkeit

Dieses Beispiel steht stellvertretend für die populistische und polemisierende Art des Umgangs mit der Institution Schule.
Hier ein Beispiel aus BILD.de vom 04.12.2019

2001 war das Entsetzen in Deutschland groß. In Teilbereichen leisteten unsere Schüler Durchschnittliches, in manchen Unterdurchschnittliches. Die Schulen und ihre Leistungen wurden mit Häme überschüttet. Dieses Verhalten hat sich in manchen Medien auch jetzt – fast 20 Jahre später – wieder eingestellt, obwohl die Ergebnisse in allen drei Bereichen über den OECD-Durchschnittswerten liegen. Aber auch die seriösen Medien berichten verkürzt. Nur in geringem Umfang werden die durchaus zutreffenden tieferen Analysen der PISA-Verantwortlichen zur Kenntnis genommen und berichtet. Noch recht häufig wird auf den überaus starken Zusammenhang zwischen Schulleistung und sozialer Herkunft verwiesen. Von dem Erfolg der Integration von Migranten in zweiter Generation, der in 2018 deutlich besser als zuvor gemessen wurde, hört, sieht oder liest man kaum.
Die Aussage des Bildungsforschers Heiner Barz in einem Tagesschau-Interview, die Ergebnisse der Pisa-Studien würden überinterpretiert, ist zu unterstreichen. Es lohnt sich, seine Begründung hier nachzulesen.

… in der Bildungspolitik

Die aktuelle Reaktion der Bundesregierung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung kann man hier lesen. Erfolge und kritische Punkte werden in Kurzform vorgestellt, interpretiert und bewertet. Auf der Seite der Kultusminister-Konferenz (KMK) findet man auch eine Stellungsnahme des Vorsitzenden und einige gute und richtige Details über die deutschen Ergebnisse.

Völlig daneben sind manche Stellungnahmen von einigen Bildungspolitikern aus deutschen Bundesländern, deren Ergebnisse traditionell gut ausfallen. Flächenländern (Bayern) vergleichen sich mit Stadtstaaten (Bremen) und loben sich unter Verweis auf vermeintliche Ursachen, die sie natürlich in ihrer guten Politik, eigentlich in ihrer Partei oder in ihrer Person, sehen. Finanzielle Leistungsfähigkeit des Bundeslandes und seiner Kommunen, sozialer und wirtschaftlicher Status der Eltern und damit die Zusammensetzung der Schülerpopulation spielen eine wesentliche Rolle.

Ein alter Streit sollte jedenfalls vorbei sein: Die Schulformen alleine haben keinen Einfluss auf die Qualität der Ergebnisse. Die Unterscheidung in integrative und gegliederte Schulsysteme ist grob, weil es höchst unterschiedliche Formen der Gliederung gibt; vertikale Gliederung ist die nach dem Alter der Schüler in Primarstufe, Sekundarstufe I und Sekundarstufe II . Horizontale Gliederung ist der Versuch, gleichaltrige Schüler schon früh in verschiedene Schullaufbahnen einzufädeln. Deutschland kann man hier ohnehin nicht einheitlich verorten, da in seinen 16 Bundesländern eine kaum noch überschaubare Mischung von gegliederten und integrativen Schulformen vorhanden ist – nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Bundesländer. Wer sich mit diesem Thema ausführlicher beschäftigen will, findet hier eine gute Übersicht der OECD-Länder mit ihren Schulformen, dem jeweiligen Einschulungsalter, der Gliederung ihres Schulwesens und Angaben zur Wiederholung von Klassen.

Meine Meinung: Deutschland sollte PISA verlassen

Die fachliche Kritik an den PISA-Studien, die unzulängliche Rezeption in der Öffentlichkeit bei gleichzeitig gesteigerter Intensität populistischer Erregung über die Ergebnisse, die kulturelle Vielfalt der teilnehmenden Länder, all das reduziert den Gewinn aus dem Vergleich mit anderen Staaten auf ein Minimum. Wichtig und sinnvoll sind die Analysen der Ergebnisse auf der nationalen Ebene, nicht im internationalen Vergleich. Und national ist Deutschland gut aufgestellt: Im Gefolge der ersten PISA-Ergebnisse 2000 und 2003 hat man nationale Bildungsstandards in einer Reihe von Fächern entwickelt, nicht nur für die Sekundarstufe I, auch für andere Schulstufen und für mehr Fächer. Die Bundesländer haben verschiedene Instrumente zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung eingeführt: Schulinspektionen, Vergleichsarbeiten, zentrale Tests (wie VERA) – auch länderübergreifend. Ein Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen wurde an der Humboldt-Universität in Berlin errichtet und leistet seinen Dienst für alle Bundesländer mit einer größeren Zahl an Instrumenten. All das ist viel näher an den nationalen Fragen und Themen zur Qualitätsentwicklung als PISA. In der breiten Öffentlichkeit werden diese Instrumente und die Ergebnisse kaum wahrgenommen.

Auch auf die deutschen Instrumente treffen einige der Kritikpunkte zu, die weiter oben zu PISA benannt wurden – aber sie sind zielgenauer, valider. Also: Deutschland sollte an weiteren PISA-Studien nicht mehr teilnehmen.