Nur Lehrer können, was Lehrer können
Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als viele Menschen die Schere oder andere Geräte in die Hand nahmen, um sich selbst oder dem Partner die Haare zu schneiden? Damals warben die Frisöre mit dem Spruch: „Nur Frisöre können, was Frisöre können.“ Das trifft analog sicher auf viele Berufsgruppen zu. So auch auf Lehrer.
Es ist üblich geworden, dass in diesen Unterrichtswochen, die die Schüler zuhause verbringen (müssen), eine Art Fernunterricht stattfindet. Die Schulen setzen dafür ganz unterschiedliche digitale Systeme ein.
Das Bistum Münster nutzt dafür ein digitales Netzwerk, das es schon vor der erzwungenen Pause mit WebWeaver® School eingerichtet hat. Der Vorteil: Lehrer und Schüler, vielleicht auch Eltern, kennen es schon durch die Nutzung während des regulären Unterrichts. Andere nutzen Moodle, wieder andere IServ. Manche Schulen haben sich erst unter dem Druck der gegenwärtigen Verhältnisse mit diesen Unterrichtsmöglichkeiten befasst, andere haben eine digitale Komponente nicht nur als Unterrichtsthema, sondern auch als Methode und Medium des Unterrichts eingerichtet.
Für den Umgang mit diesem Medium, nicht als Teil oder Ergänzung, sondern als Ersatz für den regulären Unterricht sind einige Reflexionen notwendig. Gehen wir einmal von einem konkreten Beispiel aus.
Auf der Website des Sportgymnasiums Chemnitz für die Klasse 5a liest man Befremdliches. (Die im Zitat nicht kursiv gesetzten Sätze über die Lernkontrollen fehlen mittlerweile auf der Website. In der Berichterstattung von DER SPIEGEL sind sie noch zitiert. Der Verfasser hat sie dort auch noch wenige Tage zuvor gelesen.)
Hier findet ihr die Aufgaben für die Zeit der Schulschließung. Jede Woche kommen neue dazu. Alte Aufgaben findet ihr im Archiv.
Sportgymnasium Chemnitz; vgl. auch DER SPIEGEL
Jeder Lehrer wird euch Aufgaben stellen, die ihr bearbeiten sollt.
Plant euren Tag wie einen Schultag. Nehmt euch genau so viel Zeit, wie ihr Schulstunden hättet. Am Ende solltet ihr genau so viel gelernt haben, wie ihr in der Schulzeit gelernt hättet. Das wird wahrscheinlich auch durch Kontrollen (Klassenarbeiten, Klausuren) überprüft werden.
Es erfordert viel Disziplin und „reife“ Schüler, um die Aufgaben selbstständig und ohne Ablenkungen zu lösen. Aber ein Sportschüler wird das gut lösen.
Sollten keine Aufgaben eines Lehrers online stehen, kann es auch sein, dass über lernsax Aufgaben erteilt wurden. Warte ein oder zwei Tage und frage dann beim Lehrer (wenn du seine Kontaktdaten hast) oder über notplan@sportgymnasium-chemnitz.de nach.
Wendet euch bei Fragen und Problemen an eure Lehrer. Sie werden euch gern helfen.
Wir wünschen und hoffen auf viel Erfolg beim selbstständigen Lernen! Wir freuen uns schon darauf euch bald wieder in „echt“ sehen zu dürfen.
Das ist eine gefährliche Aufforderung, zudem ist das Alter der Adressaten zu bedenken – es handelt sich um eine 5. Klasse.
In der Schule finden wir im Regelfall eine Standardsituation vor: Lehrer, Lerngruppe, Gebäude, Ausstattung, Medien …
Schüler werden von einem Profi unterrichtet, der ein diagnostisches und didaktisches Repertoire hat, der die Leistungen und die Leistungsfähigkeit der Schüler kennt und Lernprozesse in der Gruppe initiiert und steuert. (Dass alle diese Merkmale in der konkreten Situation hinter dem Optimum zurückbleiben können, ist selbstverständlich.)
Zuhause finden wir im Regelfall Eltern vor, die für ihr Kind eine Rolle wahrnehmen, die durch die elterliche Sorge und besonders durch den Erziehungsauftrag definiert ist. Die Aufgaben zu Bildung und Erziehung sind nicht so verteilt, dass Eltern ausschließlich erziehen und Lehrer ausschließlich unterrichten. Die Grenzen sind fließend. Aber Voraussetzungen und Auftrag sind deutlich voneinander zu unterscheiden. Es geht nicht darum, wer mehr und wer weniger kompetent ist, sondern um die Wahrnehmung unterschiedlicher Aufgaben.
In der Schule gibt es eine Lerngruppe. Die Lernprozesse der Schüler befruchten sich gegenseitig, manchmal gibt es Reibungsverluste. Aber das Lernen im sozialen Verbund ist konstituierend für die Schule. Die Schulpflicht für alle, nicht nur eine Unterrichtspflicht oder Bildungspflicht, ist eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts. Sie dient der Zusammenführung von Kindern aus allen Schichten, gleich welchen Status die Eltern haben. Kinder aller Hautfarben, mancher Behinderung, jedweder Nationalität gehen gemeinsam in eine Schule. Vor der Regelung durch die Weimarer Verfassung gab es Homeschooling als Prinzenerziehung. Die Kinder von Adel sollten nicht mit denen aus dem gemeinen Volk zusammensitzen müssen. Nicht von ungefähr gibt es jetzt schon wieder erste Stimmen, die ein Recht auf Unterricht durch Eltern (oder Hauslehrer) statt Schule fordern.
In anderen europäischen Ländern gibt es rechtliche Möglichkeiten für den Hausunterricht, für sogenannte Freilerner. In Deutschland kommt er nur für spezielle Fälle, in der Regel befristet, zustande, bei Krankheit, nach einem Unfall …
In der Schule gibt es auch die Praxis von Gruppenunterricht und von Partnerarbeit, die – wie der Name jeweils sagt – auf weitere Schüler angewiesen sind.
Zuhause gibt es eben dieses Lernen im sozialen Verbund nicht oder kaum. Teams zu bilden und zu erfahren, dass sich manches Problem in Kooperation schneller und besser lösen lässt, ist ein wesentliches Bildungsziel. Das Argument mancher Freilerner, dass die Kinder, die zuhause durch Eltern unterrichtet werden, gleich viel können, bezieht sich auf kognitive Inhalte, nicht auf soziales Lernen.
DER SPIEGEL schreibt zurecht:
Wahr ist aber auch: E-Learning sollte nicht nur betrieben werden, weil das irgendwie zum Image moderner Schulen gehört. Klar, Schüler müssen Medienkompetenz erwerben, aber selten hat sich so prägnant wie in der Coronakrise gezeigt: Keine Plattform ersetzt Lehrer oder Lehrerin.
DER SPIEGEL
„Lernen gelingt nur über Beziehung“, lautet ein beliebter Satz in der Lehramtsausbildung. Kinder, die ein gutes Verhältnis zu den Menschen im Klassenraum haben, lernen besser. Viele Lehrkräfte haben das längst begriffen und beweisen es in der Krise.
Per YouTube, WhatsApp oder E-Mail stehen sie nicht nur als „Lernbegleiter“ parat, sondern als Vertraute, als Pädagogen, wohl wissend, dass eine Video-Schalte den persönlichen Kontakt nie ganz ersetzen kann. Ein Hamburger Schulleiter bringt es auf den Punkt: „Schule ist so viel mehr als das Lernen an sich. Es geht um Gemeinschaft.“
Hausaufgaben, die kleinen Geschwister von Homeschooling
Hausaufgaben bilden seit jeher eine Art Homeschooling, wenn auch mit anderer Intention als in der gegenwärtigen Krise, in der sie den Besuch der Schule eine Zeitlang ersetzen sollen. Hausaufgaben, ihre Funktion und Bedeutung wie auch ihre Wirksamkeit sind seit über 50 Jahren Gegenstand der Forschung. Im Wesentlichen kann man feststellen, dass es Argumente pro und contra gibt, die hier nicht im einzelnen diskutiert werden sollen.
Ziele und Vorgaben aus dem Rund-Erlass des Schulministeriums in NRW vom 5. Mai 2015:
Hausaufgaben sollen die individuelle Förderung unterstützen. Sie können dazu dienen, das im Unterricht Erarbeitete einzuprägen, einzuüben und anzuwenden. Sie müssen aus dem Unterricht erwachsen und wieder zu ihm führen, in ihrem Schwierigkeitsgrad und Umfang die Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Neigungen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen und von diesen selbstständig ohne fremde Hilfe in den in Nummer 4.4 genannten Zeiten erledigt werden können. Sie dürfen nicht dazu dienen, Fachunterricht zu verlängern, zu ersetzen oder zu kompensieren oder Schülerinnen oder Schüler zu disziplinieren.
Rund-Erlass des Schulministeriums NRW vom 05.05.2015
Die Lehrkräfte berücksichtigen beim individuellen Hausaufgabenumfang, ob die Schülerinnen und Schüler insbesondere durch Referate, Vorbereitungen auf Klassenarbeiten und Prüfungen und andere Aufgaben zusätzlich gefordert sind.
Wichtig ist in dem obigen Zitat der Hinweis „… selbständig ohne fremde Hilfe …“ Das heißt im Gegenzug, dass die Eltern überwachen, ob die Hausaufgaben gemacht werden, der Schule Rückmeldung geben, ob sie selbständig in der vorgesehenen Zeit erledigt werden konnten und auch Auffälligkeiten berichten. Natürlich können Eltern motivieren, benennen, wenn etwas gut gemacht wurde, oder trösten, wenn etwas (noch) nicht klappt. Ausdrücklich wird aber auf die Selbständigkeit der Schüler verwiesen, die unterlaufen wird, wenn Elternhilfe die Wahrnehmung des Lehrers von den Möglichkeiten des Kindes verdeckt und dem Schüler die Erfahrung des Gelingens oder Scheiterns aufgrund eigenen Handelns versagt.
Hausaufgaben – so steht es außerdem im Erlass – sollen aus dem Unterricht erwachsen und zu ihm hinführen. Sie können Unterricht nachbereiten (Üben, Anwenden) oder vorbereiten (Sammeln von Informationen, einen vorbereitenden Text lesen). Und für unser Thema ganz wichtig: Sie „dürfen nicht dazu dienen, Fachunterricht zu verlängern, zu ersetzen oder zu kompensieren.“
Das Homeschooling, wie wir es im Augenblick erleben, soll jedoch genau das tun, wie das Eingangszitat aus dem Chemnitzer Gymnasium zeigt: Es wird in dem konkreten Fall erwartet – und sicher nicht nur dort -, dass der Fachunterricht ersetzt werden soll.
Die Drohung mit Klassenarbeiten
Eine weitere pädagogische Skurilität im Zitat des Chemnitzer Gymnasiums ist der Hinweis, dass die Ergebnisse dieselben sein sollen, als hätten die Schüler Unterricht in der Schule gehabt. Das Erreichen dieses Ziels sollen sie in Klassenarbeiten oder ähnlichen Leistungsüberprüfungen nachweisen.
Als Hemmnis hierfür kann man zu Recht annehmen, dass Eltern in der Professionalität des Unterrichtens und in den Kenntnissen von Lerngegenständen in der Regel hinter den Lehrkräften zurückstehen. Es kommt ein wichtiger anderer Gesichtspunkt hinzu: Eltern haben möglicherweise in ihrer Schulzeit das konkrete Thema des Unterrichts nach anderen Konzepten und mit anderen Begriffen gelernt, als sie heute nicht nur in der Didaktik des Faches, sondern auch in dem Fach selbst aktuell sind. Begrifflichkeiten und Sichtweisen auf Bildungsinhalte verändern sich mit der Zeit.
Wenn eine Klassenarbeit, eine Klausur oder eine andere Form der Leistungsüberprüfung die Leistungen der Schüler offenlegt, so gilt das nicht minder für die Leistung des Lehrers. Und die können ihre Schüler und deren Lernprozesse zurzeit nur begrenzt begleiten. Insofern sind Leistungsüberprüfungen in dieser Situation im Wesentlichen von diagnostischem Wert.
Eltern ersetzen nicht den Lehrer, sie nehmen auch beim Homeschooling die Rolle der Eltern wahr. Sie kommunizieren darüber mit dem Lehrer, sei es als Rückmeldung, die für die Steuerung von Lernprozessen wichtig ist, oder als Frage, weil etwas unklar geblieben ist.
Einige Länder haben im Gegensatz zu der oben zitierten Drohung das Sitzenbleiben für den kommenden Termin abgeschafft, was nicht ausschließt, dass Schule und Eltern im Einzelfall eine Klassenwiederholung vereinbaren. Etliche Schulen – wie zum Beispiel die Gesamtschulen – verzichten bis zur 9. Klasse ohnehin auf das Selektionsinstrument Nichtversetzung.
Was kann Homeschooling leisten?
- Eltern können Lehrer, das Elternhaus – im wörtlichen Sinne auch als Gebäude begriffen – die Schule nicht ersetzen.
- Es geht daher – wie bei den Hausaufgaben – um die Selbständigkeit von Schülern. Sie – und nicht die Eltern – sind in erster Linie die Adressaten der Aufträge der Schule.
- Die Eltern müssen über die Rolle aufgeklärt werden, die die Schule von ihnen erwartet: Dem Lernen eine zeitliche Struktur geben, sich über den Lernprozess des Kindes beobachtend informieren, der Schule unter Umständen Rückmeldungen geben.
Spätestens seit den achtziger Jahren haben sich reformpädagogische Arbeitsweisen zunächst in der Grundschule etabliert, danach auch in anderen Schulformen und -stufen, die in dieser Situation gut passen. Sie übersetzen das Ziel der Selbständigkeit – und damit auch der Individualisierung und Differenzierung – in methodische Formen.
Selbstgesteuertes Lernen: Unter diesem Begriff werden Unterrichtsformen zusammengefasst, die – wie zum Beispiel Freiarbeit und Wochenplanarbeit – Selbständigkeit als Ziel und Methode des Lernens und Lehrens verstehen. Es geht hierbei um eine begrenzte Stunden- und Fächerzahl in der Woche, in der diese Arbeitsform Anwendung findet. (Die Gesamtschule Gescher findet mit ihrer Ausprägung dieses Konzeptes landesweit und darüber hinaus Anerkennung.) Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung sind im Wesentlichen entsprechend fortgebildete Lehrer und für diese Unterrichtsformen geeignete Materialien.
Die verschiedenen Formen und Begriffe des selbstgesteuerten Lernens überschneiden sich, sind nicht trennscharf.
Zum Beispiel:
Freiarbeit: Schüler wählen und bearbeiten Aufgaben in einer begrenzten Unterrichtszeit möglichst selbständig. Sie können Schwierigkeitsgrad und Zeit je nach Material auswählen. Maria Montessori, Peter Petersen und Célestin Freinet sind bei dieser Methode Vorreiter gewesen.
Wochenplanarbeit: Die Schüler erhalten für eine begrenzte Zahl der Unterrichtsfächer Aufgaben, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums (zum Beispiel innerhalb einer Woche) zu bearbeiten sind. Möglichkeiten der Differenzierung und Individualisierung in Umfang oder Schwierigkeitsgrad sollen möglichst vorgesehen werden.
Hier ein Zitat von der offiziellen Website des NRW-Schulministeriums zum selbstgesteuerten Lernen:
Lernende als Subjekte des eigenen Lernprozesses
Die Förderung des selbstgesteuerten Lernens ist zentrales Ziel zahlreicher Unterrichts- und Lernzeitenkonzepte. Hinsichtlich dieser Organisationsform des Lernens existiert eine Vielfalt an Begrifflichkeiten. Die Rede ist von selbstorganisiertem, selbstständigem, eigenverantwortlichem, selbstbestimmtem oder auch von autodidaktischem Lernen. Gemein ist allen diesen Ansätzen, dass sie den Beteiligten des Lehr/-Lernprozesses veränderte Rollen zuweisen. Der vormals eher passive Lerner, der Wissen überwiegend präsentiert bekommt, wird zum Subjekt seines Lernprozesses, den er selbst zu steuern lernt. Als Konsequenz daraus ändert sich auch die Rolle der Lehrperson, die nicht mehr alleine nur Wissen vermittelt, sondern sich als Initiator von selbstgesteuerten Lernprozessen versteht, in denen sie beobachtet, begleitet, berät, motiviert, Hilfe zur Selbsthilfe gibt und vieles mehr.
Qua-Lis NRW Schulentwicklung