„Er hat an mich geglaubt!“ – Und der Pygmalion-Effekt

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Während der letzten Jahre treffe ich immer wieder Schüler, die ich unterrichtet habe. Manchmal kommt ein ehemaliger Schüler als Handwerker ins Haus, manchmal grüßen mich ehemalige Schülerinnen, die – wie ich – mit einem Hund unterwegs sind, und wir kommen ins Gespräch, weil wir uns in der Schule kennenlernten. Die Erinnerungen, die wir austauschen, sind vielfältig.

Zwei Beispiele

In der letzten Zeit waren es zwei erfolgreiche Handwerker, der eine um 50, der andere um 60 Jahre alt, die in unserem Haus zu tun hatten.

Beide waren ehemalige Schüler, an die ich mich erinnerte, beide sprachen mich auf ihre Erfahrungen als Schüler an. Wir sprachen über Lehrer, auch über das persönliche Verhältnis zu der ein oder anderen Lehrkraft. Unabhängig voneinander sagten sie den Satz: „Er hat an mich geglaubt.“

Der Ältere beschrieb einen Lehrer, der mittlerweile verstorben ist. Er lobte seinen klar strukturierten Unterricht, er sprach davon, dass er viel gelernt habe. Seiner Mutter habe der Lehrer am Elternsprechtag mehrfach gesagt: „Der Junge wird seinen Weg gehen, der entwickelt sich. Warten Sie es nur ab.“ Diese Zitate haben den älteren Herrn, der Anfang der siebziger Jahre Schüler der Hauptschule war, durch sein Leben begleitet. Er hat erlebt: Da traut mir jemand etwas zu.

Der Fünfzigjährige fragte mich: „Haben Sie noch mal etwas von Herrn B. gehört? Der war mein Klassenlehrer.“ Dann fuhr er fort: „Ohne Herrn B. wäre ich nicht da, wo ich jetzt bin. Er hat an mich geglaubt. Ich war als Kind nicht einfach. Aber er und Herr A. haben mir immer deutlich gemacht, dass ich es schaffen werde. Und sie haben mir dabei geholfen.“ Auch hier: Die positive Einschätzung der Lehrer haben dem Jungen ein positives Bild von sich selbst eingepflanzt, und er hat erfolgreich versucht, diesem Bild gerecht zu werden. Er hat einen ansehnlichen Betrieb aufgebaut und guten Erfolg damit.

Der Pygmalion-Effekt

In der Literatur wird der Pygmalion-Effekt beschrieben. Rosenthal und Jacobson beschrieben 1965 in ihrem Buch Pygmalion in the Classroom (Pygmalion im Klassenzimmer) ein Experiment, wie einer Gruppe von Lehrern einige Schülerinnen und Schüler benannt wurden, die vorgeblich kurz vor einem Entwicklungsschub stünden; das sei durch einen besonderen Test festgestellt worden. In Wirklichkeit waren diese Schüler zufällig ausgewählt. Etwas 20 % der Gesamtzahl der Schüler bildeten diese Experimentgruppe. Die anderen 80 % bildeten die Kontrollgruppe. Der Test war kein „besonderer“ Test, sondern ein Intelligenztest gewesen.

Bei einem späteren Intelligenztest, an dem alle Schüler teilnahmen, zeigte sich bei etwa der Hälfte der Experimentgruppe eine überdurchschnittliche Steigerung ihres Intelligenz-Quotienten. Daraus schloss man, dass sich Schüler durch das Verhalten von Lehrern, das aus der positiven Einschätzung folgte, der Erwartung angepasst und ihre Leistungen gesteigert hätten. Das Wort von der self fullfilling prophecy (selbsterfüllende Prophezeiung) hat in den Experimenten von Rosenthal eine Basis. An der Anlage und Durchführung dieser Untersuchung gab es allerdings auch Kritik von Fachkollegen.

Rosenthal hatte zuvor schon nachgewiesen, dass die Erwartungen eines Versuchsleiters im Laborexperiment in der Sozialpsychologie Auswirkungen auf den Erfolg haben. Während dieser letzte Effekt vielfach bestätigt wurde, ist die Lage beim Pygmalion-Effekt nicht so eindeutig. Nach vielen weiteren Untersuchungen zum Pygmalion-Effekt zeigte eine Metastudie, die die Ergebnisse sichtete und zusammenfasste, einen eher schwachen Effekt. Allerdings wurden bei etwa 40 % der Experimente Ergebnisse im Sinne des Pygmalion-Effekts beobachtet. Auf Details, besonders methodischer Art, sei hier nicht weiter eingegangen.

Man erklärt sich das Phänomen damit, dass die Lehrkraft den Schülern ihre Erwartungen subtil und oft unbewusst übermittelt und ihn vermehrt fördert, etwa durch persönliche Zuwendung, durch Geduld, durch höhere Leistungsanforderungen und anderes mehr.

Der deutsche Psychologe Heinz Heckhausen formulierte später Bedingungen für das Auftreten dieses Effekts:

  1. der Schüler ist ein sogenannter Leistungsverweigerer oder Minderleister, er leistet derzeit also weniger, als ihm seine Fähigkeiten erlauben,
  2. der Lehrer hat bislang die Fähigkeiten des Schülers unterschätzt,
  3. der Schüler hat die Einschätzung des Lehrers auch übernommen, also internalisiert.
    (Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pygmalion-Effekt)

Eine ordentliche Zusammenfassung der Forschungen hierzu kann man in dieser Hausarbeit zweier Studentinnen lesen.

Erziehung braucht Wertschätzung, Zutrauen und Ermutigung

Aber was hier sozialpsychologisch kühl erforscht und beschrieben wurde, bleibt weit hinter dem zurück, was die eingangs erwähnten ehemaligen Schüler erfahren haben. Das Verhalten der Lehrer war nicht einer vorgesetzten (Fehl-)Information geschuldet, sondern der Beziehung zwischen Schüler und Lehrer, einer Beziehung, die durch Zuwendung, Ermutigung, Zutrauen und Vertrauen geprägt wurde. Das Vorbild des Lehrers, die Wertschätzung, die er ausdrückte, übernahmen die Schüler in ihr Selbstbild. Sie haben etwas daraus gemacht – und sich ein Leben lang an den Lehrer und seine Haltung erinnert.