„Abschulen“ vom Gymnasium – Filtern statt Fördern

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Bereits vor einiger Zeit habe ich einen Beitrag verfasst, der sich mit dem Aussortieren von Kindern im Gymnasium befasst: Viele Gymnasiasten müssen die Schulform wechseln hieß es da. Die Aussagen wurden mit Daten aus der amtlichen Landesdatenbank unterfüttert. Sie zeigten deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Standorten. Zahlen aus dem ganzen Land NRW, dem Kreis Borken und der Stadt Stadtlohn habe ich miteinander verglichen.

Während immer noch aus Haupt- oder Realschulen kaum Kinder oder Jugendliche in das Gymnasium wechseln, werden nach wie vor viele vom Gymnasium in Real- oder Hauptschulen „abgeschult“, wie es etwas abwertend heißt.

In diesem Post werden die Zahlen ohne Nennung einer Schule oder Kommune dargestellt. Seit einigen Jahren stellt die Landesdatenbank NRW die Zahlen nicht mehr schulscharf zur Verfügung. Die Anzahl der „Sitzenbleiber“ wird nur gerundet, andere Zahlen werden unterhalb der Kreisebene zusammengefasst.

Ein Beispiel aus dem Kreis Borken

Schauen wir zwei Jahrgangsstufen eines Gymnasiums im westlichen Münsterland an. Die Zahlen habe ich den Anlagen zu den Niederschriften des städtischen Schulausschusses, der Landesdatenbank des Landes NRW und der Tagespresse entnommen. Zunächst die Zahlen für die Fünftklässler des Jahres 2011, die 2019 die Reifeprüfung hätten ablegen sollen.

Schülerzahlen des Einschulungsjahrgangs 2011/12

155 Schülerinnen und Schüler wurden 2011 in die 5. Klasse aufgenommen, 128 (82,6 %) bestanden das Abitur. Das sind 27 Schüler (17,4 %) weniger als seinerzeit aufgenommen wurden. Allerdings wäre die Interpretation falsch, dass alle 128 schon als Fünftklässler angetreten wären. Vielmehr sind darin auch die enthalten, die durch Sitzenbleiben aus oberen Klassen dazu kamen; zu berücksichtigen ist auch, dass weitere Schüler durch Klassenwiederholung in untere Klassen abgerutscht sind. Diese Zahlen kann man bis zum Schuljahr 2017/18 noch der Landesdatenbank entnehmen. Hier findet man auch, dass nur ein Schüler (aus einer Realschule) in die gymnasiale Oberstufe wechselte.

Schülerzahlen des Einschulungsjahrgangs 2012/13

Im Folgejahr wurden 141 Schülerinnen und Schüler in die fünften Klassen aufgenommen., 90 (64,3 %) legten die Reifeprüfung ab, also 51 weniger, als im fünften Schuljahr starteten. Auch in diesem Jahr sind von den 90 Abiturienten 8 Wiederholer aus höheren Klassenstufen hinzugekommen und andere in tiefere Klassenstufen abgestiegen. War es im Vorjahr ungefähr ein Sechstel der Schülerinnen und Schüler, die ihr Ziel nicht erreichten, sind es in diesem Durchgang etwa ein Drittel.

Kann sein, dass es sich hier um Ausreißer handelt. Aber auch wenn die Zahlen derjenigen, die unterwegs aussortiert wurden, mittlerweile gesunken sein sollten, müssen Kinder und Eltern besonders am Ende der Orientierungsstufe (Klassen 5/6) mit der Gefahr der Umschulung in eine andere Schulform rechnen.

Filtern statt Fördern

Seit geraumer Zeit schreibt das Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen die individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler als Ziel vor.

§ 1
Recht auf Bildung, Erziehung und individuelle Förderung

(1) Jeder junge Mensch hat ohne Rücksicht auf seine wirtschaftliche Lage und Herkunft und sein Geschlecht ein Recht auf schulische Bildung, Erziehung und individuelle Förderung. Dieses Recht wird nach Maßgabe dieses Gesetzes gewährleistet.
(2) Die Fähigkeiten und Neigungen des jungen Menschen sowie der Wille der Eltern bestimmen seinen Bildungsweg. Der Zugang zur schulischen Bildung steht jeder Schülerin und jedem Schüler nach Lernbereitschaft und Leistungsfähigkeit offen.

Schulgesetz des Landes NRW vom 15. Februar 2005

Wie kommt es zu den vielen „Abschulungen“?

  • Die Gymnasien nehmen viele Schüler auf, die die erwarteten Leistungen nicht abliefern.
    • Wie in anderen Posts beschrieben (Grundschulempfehlung – verbindlich oder nicht), sind die Empfehlungen der Grundschulen keine verlässlichen Vorhersagen für eine erfolgreiche Schullaufbahn. Die Maßstäbe sind nicht einheitlich, sie sind weder objektiv noch zuverlässig noch messen sie das, was sie eigentlich messen sollen.
    • Außerdem kommt der Umstand hinzu, dass Kinder und Jugendliche sich nicht ohne Brüche entwickeln. Das mindert den Prognosewert grundsätzlich.
    • Über die Jahre wechseln auch die erwarteten Kompetenzen. Ein Kind, das mit neun Jahren wegen seiner Fähigkeiten in Mathematik gut bewertet wird, muss in den Themengebieten der späteren Jahre über ganz andere Fähigkeiten verfügen – zum Beispiel über Abstraktionsvermögen.
  • Gymnasien geben Kinder mit Problemen unterschiedlicher Art an andere Schulformen ab.
    • Ergeben sich Probleme, greift bei vielen gymnasialen Lehrkräften der Reflex: „Dieses Kind gehört nicht hierher.“
    • Manche Kinder, die zwar begabt sind, aber wegen ihres Migrationshintergrundes noch Deutsch lernen müssen, treffen in Gymnasien eher selten auf die notwendigen Förderbedingungen, wenn sie überhaupt aufgenommen werden.
    • Kinder oder Jugendliche, deren Verhalten unangepasst ist, lassen in ihren Leistungen oft nach. Gründe können Entwicklungen sein, die sich aus der Pubertät ergeben, aus Problemen in der Familie – Sucht eines Elternteils, Trennung oder Scheidung der Eltern, schwere Krankheit in der Familie und noch manch andere Ursachen. Einige Lehrer neigen dazu, nicht den Ursachen nachzugehen und diese zu berücksichtigen, vielleicht über schulinterne Beratungssysteme (Beratungslehrer, Sozialpädagoge oder Sozialarbeiter) zu bearbeiten oder an schulexterne Stellen zur Beratung (Schulpsychologische Beratungsstellen) zu vermitteln. Letzteres wäre Fördern, stattdessen filtert man.

Die in Paragraph 1 des Schulgesetzes von Nordrhein-Westfalen geforderte „individuelle Förderung“ meint, dass das Kind Anspruch auf einen Unterricht hat, in dem seine je individuellen Fähigkeiten die Ausgangsbasis der Planung sind. „Individuelle Förderung“ bedeutet: Der Unterricht, das System Schule insgesamt, passt die schulpädagogische Arbeit individuell an die Schüler an und hilft ihnen von hier aus bei ihrer Bildung. Natürlich kann dazu im Einzelfall auch ein gut begründeter und gut vorbereiteter Schul- oder sogar Schulformwechsel gehören. – Wie gesagt: im Einzelfall.