Schulministerin will Präsenzunterricht: „Schulpflicht wird nicht ausgesetzt!“
„NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hat sich empört über einen Vorstoß zum coronabedingten Aussetzen der Schulpflicht geäußert. Das von der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina vorgeschlagene Aussetzen der Schulpflicht ab dem 14. Dezember werde es mit ihr als Schulministerin nicht geben, erklärte Gebauer am Mittwoch im Düsseldorfer Landtag.
https://www.waz.de/politik/corona-gebauer-wehrt-sich-gegen-schul-lockdown-vorschlag-id231102180.html
Der Vorschlag sei „untauglich“, sagte die FDP-Politikerin. Ihr sei völlig unverständlich, wie eine solche Äußerung von einer Akademie der Wissenschaft in die Öffentlichkeit getragen werden könne.“
So steht es am 9. Dezember 2020 auf der Webseite der WAZ. Nun ist das Aussetzen der Schulpflicht rechtlich eine komplexe Angelegenheit, denn erstens steht sie im Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, zweitens entspricht der Schulpflicht das Recht auf Bildung. Allerdings geht es bei dem Maßnahmenpaket, dass die Leopoldina vorgeschlagen hat, nicht um die juristisch präzise Formulierung, sondern um Kontaktvermeidung, und das bedeutet in der Schule nicht „Aufhebung der Schulpflicht“, sondern das, was vor einigen Monaten „Homeschooling“ hieß, jetzt aber als „Distanzunterricht“ bezeichnet wird. – In der jüngeren Vergangenheit hat sich die Ministerin auch gegen diese Form des Unterrichts ausgesprochen.
Kritik von Eltern an Yvonne Gebauer
Angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen geht es vielen Eltern nicht um die Formulierung des Sachverhalts, sondern um den gemeinten Inhalt, nämlich die Möglichkeit, die Kinder nicht zur Schule schicken zu müssen.
So schrieb die Neue Westfälische auf ihrer Webseite nur einen Tag später, am 10. Dezember:
„NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer (FDP) sieht ihre Pandemie-Politik mit Blick auf Schulen erneut heftiger Kritik ausgesetzt. Am Mittwoch hatte sie mit Blick auf Forderungen der Nationalen Akademie der Wissenschaften (Leopoldina) nach einer Aussetzung der Schulpflicht ab 14. Dezember gesagt, diese werde es mit ihr nicht geben.
https://www.nw.de/nachrichten/zwischen_weser_und_rhein/22915531_Kritik-an-NRW-Ministerin-Gebauer-Machen-Sie-endlich-die-Schulen-zu.html
Am Donnerstag äußerten sich viele Eltern, aber auch andere Menschen kritisch dazu, etliche forderten ihren Rücktritt. Bei Twitter gehörte der #GebauerRuecktritt am Donnerstag zu den am häufigsten verwendeten.“
Durcheinander, kein Konzept
Yvonne Gebauer, seit drei Jahren Ministerin für Schule und Weiterbildung im bevölkerungsreichsten Bundesland, ist schon wiederholt als nicht ganz sattelfest in der konsistenten Führung eines solch komplexen Systems aufgefallen. Ob Inklusion, G8, Schreibenlernen – wiederholt kehrte sie laufende Entwicklungen um. Schulen entwickeln sich jedoch in längerfristigen Zyklen, oft verbunden mit Maßnahmen, die kurzfristig nicht zu widerrufen sind. Steuert man mehrfach um, verliert man Ressourcen, auch Vertrauen und Motivation der Mitarbeiter.
Diesmal war die Halbwertzeit einer Entscheidung der Ministerin noch viel kürzer. Schon am nächsten Tag, am 11.12.2020, beschlossen der Ministerpräsident und sein Stellvertreter – Armin Laschet (CDU) und Joachim Stamp (FDP) -, die Kinder ab Klasse 8 ganz überwiegend zuhause zu lassen; bis zur siebten Klasse sollen Eltern entscheiden, ob sie ihr Kind zur Schule schicken.
Das Modell, dass Eltern im Einzelfall über den konkreten Schulbesuch entscheiden, hat schon eine lange Geschichte. Die Allgemeine Schulordnung für NRW sieht seit Jahrzehnten vor, dass Eltern die Kinder zuhause lassen können, wenn das Wetter den Schulweg unzumutbar erscheinen lässt – Glatteis, Starkregen oder Ähnliches.
Eine organisatorische und kommunikative Katastrophe
Inhaltlich ist die ab dem 14. Dezember, also dem kommenden Montag, geltende Regelung sinnvoll. Die Zahl der Kontakte in den Schulen wird deutlich kleiner, weil weniger Kinder anwesend sind. Eltern von jüngeren Kindern können für den überschaubaren Zeitraum bis zu den Weihnachtsferien zwischen Präsenzunterricht in der Schule und Distanzunterricht zuhause wählen. Das ist eine vernünftige Lösung, weil es Eltern, die ihr Kind nicht selbst betreuen können, als Alternative den Schulbesuch des Kindes anbietet.
Organisatorisch und kommunikativ ist die Umsetzung hingegen eine Katastrophe: Am Freitag kommt eine E-Mail des Ministeriums in die Schulen, die ab dem folgenden Montag gilt. Das erwischt alle Beteiligten kalt, da die Aussage Gebauers zum Festhalten an der Schulpflicht, also am Präsenzunterricht verstanden worden war. Niemand ist wirklich vorbereitet.
Von den Schulleitern in NRW kommt Kritik an der kurzfristigen Entscheidung, dass die Präsenzpflicht an den Schulen ausgesetzt wird. Der Vorsitzende der Schulleitungsvereinigung, Harald Willert, sagte gegenüber WDR 5: „Es wäre schön und einfach nützlich gewesen, wenn wir das nicht wieder zu einem Zeitpunkt erfahren hätten, wo ein Teil der Kollegen bereits auf dem Weg nach Hause ist und die Schüler weitestgehend auf dem Weg nach Hause sind.“
https://www.wa.de/nordrhein-westfalen/corona-schule-nrw-schliessung-schulpflicht-aktuell-ferien-armin-laschet-yvonne-gebauer-duesseldorf-90126237.html
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Willert kritisiert, dass viele Schulen ihren Schülern keine Materialien mehr mitgeben können. Außerdem hätten nicht alle ausreichend gute Kommunikationswege, um über das Wochenende abzufragen, wer von den Schülern am Montag auftaucht. Er beklagt: „Das Ministerium lebt ständig von der Hand in den Mund. Es gibt keine Strategie, es gibt keine Konzepte. Es gibt nur eine Deutungshoheit“. Es sei jetzt notwendig, dass sich das Schulministerium Gedanken mache, was der Verlauf dieses Schuljahres rechtlich für die Schüler bedeute.
Es ist in diesen Zeiten nicht das erste Mal, dass Yvonne Gebauer so hektisch agiert und binnen kurzem unterschiedliche Positionen einnimmt. Mehrfach ist sie von ihrem Ministerpräsidenten überholt worden, der etwas anderes vorgibt als seine Schulministerin gerade noch verkündet hat. Die Frage ist erlaubt, wie die Kommunikation zwischen Staatskanzlei und Schulministerium beschaffen ist. Wird die Schulministerin überhaupt eingebunden? Was zählt ihr Wort? Verschätzt sie sich, wenn sie sich kurz vor Entscheidungen des Ministerpräsidenten, wie hier mit ihrer Schulpflichtaussage, aus dem Fenster lehnt? Fällt sie in absehbarer Zeit heraus oder wird sie gar geschubst? Oder bietet sie im Wiederholungsfall von sich aus den Rücktritt an?
„Für die SPD-Opposition ist das Maß voll: Sie forderte Gebauer am Freitagabend zum Rücktritt auf. Es brauche einen personellen Neustart in der Schulpolitik des Landes NRW, erklärten Eva-Maria Voigt-Küppers, stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende, und Jochen Ott, schulpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.
https://www.ksta.de/region/corona-in-nrw-aussetzung-der-praesenzpflicht—schulleiter-beklagen-kurzfristigkeit–36439428?cb=1607797530118r
Bisher hatte Gebauer stets betont, es solle trotz der Pandemie möglichst für alle Schüler beim Präsenzunterricht bleiben. Nur in Einzelfällen solle „schulscharf“ digital unterrichtet werden. Das ändert sich nun – die Präsenzpflicht ist ab Montag ausgesetzt.
Gebauer, so die SPD, habe das Vertrauen, das es zur Bewältigung der Corona-Krise brauche, nachhaltig beschädigt. Die vergangenen Wochen und Monate hätten in der Schulpolitik für Chaos, Verwirrung und Verunsicherung gesorgt. „Die heutige Schulmail, die die Schulen wieder nach Schulschluss erreicht hat, bringt das Fass zum Überlaufen.“ Der über Wochen dogmatisch abgelehnte Distanzunterricht solle es nun doch richten.
Angekündigt worden sei diese drastische Wendung erneut in das Wochenende der Schulbeschäftigten. Keiner könne sagen, wie die neuen Anforderungen bis zum Montag umgesetzt werden sollen. …“
Keine Aussetzung der Schulpflicht
Laschets Stellvertreter Joachim Stamp (FDP), Minister für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration, betont noch einmal trotzig, es handle sich nicht um eine Aussetzung der Schulpflicht, sondern um Distanzunterricht; womit er zweifelsohne Recht hat. Die Feinheiten der Formulierung sind aber nicht das Thema, das Eltern und Schulen interessiert. Das einzig Bedeutsame ist für sie die Frage: Sind die Kinder in der Schule oder zu Hause?