„Kinderjahre im Schatten des Hakenkreuzes“ – ein Buch von Otger Eismann

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Als ich in der Tageszeitung las, dass ein neues Buch die Kinderjahre des Diakons Otger Eismann aus Gescher in der Zeit des Nationalsozialismus behandelt, habe ich es in der örtlichen Buchhandlung gekauft. Dabei erwies sich: Das Interesse der Gescheraner daran ist offensichtlich groß. Der kleine Vorrat war schnell vergriffen, es musste nachgeordert werden. Der 1933 geborene Autor wuchs in Gescher auf, ging in Gescher zur Schule und arbeitete hier eine Zeitlang, unter anderem als Lehrer.

„Kinder“-Jahre waren es wirklich, Eismann war zum Ende des Dritten Reiches zwölf Jahre alt. Nach der Lektüre kann ich sagen, dass sein Schicksal das Leben vieler Kinder in dieser Zeit widerspiegelt – bis hin zu den schmerzhaften Erfahrungen mit seinen im Krieg gefallenen Brüdern Bernhard und Karl und seinem in der russischen Gefangenschaft gestorbenen Bruder Martin. Neben den Erfahrungen „im Schatten des Hakenkreuzes“ erfährt der Leser viel über die Kindheit und das Leben in Gescher zu jener Zeit überhaupt.

Besonders interessierte mich, welche Erinnerungen Otger Eismann an seine Schulzeit hat.

Schule

Eismann beschreibt im Rahmen dieses Buches seine Schulzeit von 1939 bis 1945. Als Leitmotiv kann man erkennen, dass er bis zum Schluss unsicher ist, was richtig ist – das, was in der Schule und im „Jungvolk“ propagiert und gelebt wurde, oder die skeptische und stark christlich geprägte Sicht in seinem Elternhaus. „Wer hatte nun Recht, das Elternhaus oder das nationalsozialistisch geprägte Umfeld in Schule und Gesellschaft?“ fragt er im „Klappentext“ auf der Rückseite des Buches.

Fünfzig Schüler waren in der Klasse der Jungen, bei den Mädchen sah es nicht viel anders aus. Schon bei der Einschulung wurden reine Mädchen- und Jungenklassen gebildet. Einige Strichzeichnungen des Autors veranschaulichen die Situation. Ein Beispiel: Die Kinder sitzen in Reih und Glied, die Lehrerin erhöht auf dem Katheder, an der Tafel in Sütterlin der Wochenspruch: Der Führer liebt die Kinder sehr, darum grüßen wir „Heil Hitler!“

Lehrkräfte

Der kleine Otger besuchte die Volksschule, deren Bau zunächst die „Hindenburgschule“, heute „Pankratiusschule“, an der Armlandstraße war. (Den Namen Hindenburgs trug die Schule auch noch eine Reihe von Jahren nach dem Krieg. Erst nach Abpfarrung der Pfarrei Mariä Himmelfahrt und der damit verbundenen Bildung von Schulbezirken, deren Grenzen mit denen der Kirchengemeinden übereinstimmten, wurde sie in „Pankratiusschule“ umbenannt.) Seit Ende der dreißiger Jahre (1938) gab es einen zweiten Bau, die heutige Von-Galen-Schule.

Eismann beschreibt mehrere Lehrkräfte, einen Lehrer, der sich freiwillig zum Militärdienst meldete, eine Lehrerin namens Ohlenburg und den Rektor Dr. Hüer. (Im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens erwähnte Letzterer die „Schulhelferin“, nicht „Lehrerin“, Ohlenburg. In den Zeiten des kriegsbedingten Lehrkräftemangels griff man zu unorthodoxen Lösungen.)

Der erste Lehrer

Seinen ersten Lehrer fand Otger Eismann sympathisch, sehr streng, aber liebevoll und korrekt. Der Reserveoffizier aus dem Ersten Weltkrieg mit dem Dienstgrad eines Oberleutnants war laut Eismann „deutschnationaler Gesinnung“. In der Klasse habe dementsprechend militärischer Drill geherrscht. Dieser Lehrer habe sich 1939 nach Kriegsbeginn freiwillig zur Wehrmacht gemeldet, sei als Hauptmann eingezogen worden, habe aber nie an der Front gekämpft. Er sei Kommandant eines französischen Gefangenenlagers gewesen und aus Altersgründen aus der Wehrmacht 1943 entlassen worden. 1944 führte er dennoch als Major Geschers „Volkssturm“ an, wie Eismann berichtet. Allerdings sei dieses „Kinder- und Greisenregiment“ in Gescher nicht als kämpfende Truppe in Erscheinung getreten. Der ehemalige Lehrer sei später gefangengenommen und in ein Entnazifizierungslager gebracht worden. „Anschließend hatte er es sehr schwer, wieder als Lehrer in den Schuldienst übernommen zu werden; schade, er war wirklich ein sehr guter Lehrer“, resümiert Eismann (S. 127).

Hier taucht die Spannung wieder auf: Eismann beschreibt den Lehrer als offenbar überzeugten Nationalsozialisten, der sich in einem Angriffskrieg freiwillig zur Wehrmacht meldet und später sogar zur Führung des Volkssturms antritt, obwohl der Krieg schon als verloren gelten musste. Dennoch beschreibt er ihn als „sehr guten“ Lehrer. Das mag mit den emotionalen Erfahrungen des kleinen Schülers zu tun haben, der seinen Lehrer liebevoll und sympathisch findet. – Nach heutigen Maßstäben würde man ihn kaum als „guten“ Lehrer bezeichnen, da auch Einstellungen und Werte durch das Beispiel des Erziehers vermittelt werden.

Die fanatische Lehrerin

Besonders positiv vermerkt Otger Eismann, dass dieser Lehrer nicht prügelte – im Unterschied zu einer fanatischen Anhängerin des „Führers“, der Schulhelferin Ohlenburg, die mit dem Einsatz von Stockschlägen auf die offene Hand laut Eismann nicht sparte. („Schulhelferin“ bedeutet, dass sie nicht als Lehrerin ausgebildet war, wenn er auch schreibt, dass sie frisch und ohne jede pädagogische Erfahrung von der Lehrerbildungsanstalt gekommen sei. Viele erfahrene Lehrer waren zur Wehrmacht gezogen worden, daher nahmen auch nicht regulär ausgebildete Personen Lehrerstellen ein.) Eismann beschreibt sie als durchdrungen vom nationalsozialistischen Geist, optisch dem Ideal der Nazis entsprechend – blond und blauäugig.

Hier trifft sich seine Erinnerung mit denen von Winfried Pielow, der seine Lehrerin „Fräulein“ Thaddey als ebenfalls fanatische Anhängerin des Nationalsozialismus mit Klarnamen nennt. Das Einwerfen von Fensterscheiben eines jüdischen Hauses beschreiben beide, Pielow verbunden mit dem Hinweis auf eine Aufforderung der Lehrerin Thaddey zu dieser Tat. Eismann dagegen spricht von einem schon leerstehenden Haus einer jüdischen Familie, dessen Scheiben einzuwerfen er letztlich doch nicht fertigbrachte und den Stein wieder aus der Hand legte – sozusagen ein „straffreier Rücktritt vom Versuch“. 

Dr. Hüer und die Aufnahme in die Rektoratsschule

Der Schulleiter, Rektor Dr. Hüer, den Eismann durchgängig „Dr. Huer“ schreibt, spielte für den Schüler Otger Eismann eine besondere Rolle. Der Junge sollte die Rektoratsschule besuchen, die an der Hindenburgschule auf Initiative von Dr. Hüer als „Gehobene Abteilung der Volksschule“ entstanden war. Anders als von der Realschule Gescher immer wieder vertreten, war diese Einrichtung ein Progymnasium, keine Mittel- oder Realschule. Ein Progymnasium bereitete – wie der Name schon sagt – auf den Besuch des Gymnasiums vor, nahm in gewisser Weise die unteren Klassen des Gymnasiums vorweg. Die Aufnahme war an das Bestehen einer Prüfung geknüpft, zu der die Lehrerin eine Zulassung aussprechen musste. Da „Fräulein“ Ohlenburg sich – nach Eismanns Meinung aus persönlichen Gründen – weigerte, ihn für das Progymnasium vorzuschlagen, wandten seine Eltern sich an Dr. Hüer, der unter Umgehung der Klassenlehrerin die Zulassung aussprach und die Aufnahmeprüfung abnahm. Otger wurde aufgenommen.

Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass Eismann Dr. Hüer für seine Haltung dankbar ist und ihn als jemanden beschreibt, der es verstand, „in jener unseligen Zeit, das Beste für seine Schule herauszuholen, ohne dabei bei den Nazis ‚aktenkundig‘ zu werden.“ (S. 62 f) Die Archivlage stellt den Rektor allerdings anders dar. Wer das nachlesen will, findet Details zum Beispiel in meinem Post Eine kleine Geschichte der städtischen Realschule Gescher (Teil I), oder in einem Heft von Hendrik Lange, aus dem auch das folgende Zitat entnommen ist:

Dr. Hans Hüer war Rektor der Volkschule Gescher und wurde 1947 wegen seiner Parteimitgliedschaft als ‚Mitläufer‘ eingestuft. Hiergegen ging er in die Berufung und erreichte 1949 die Kategorie V, entlastet. Er legte eine Bescheinigung vor, nach der der Schulrat 1933 – in Absprache mit den Geistlichen wie Dechant Lobbe – empfohlen habe, die katholischen Lehrer sollten in die Partei eintreten, um Schlimmeres zu verhüten.

Wiemold, Willi: Gescher im 20. Jahrhundert. Die Jahre 1931 bis 1950 in Bildern und Berichten. Selbstverlag Willi Wiemold, Gescher 2015. S. 69; zit. nach Lange, Hendrik: Christen im Nationalsozialismus : Gescheraner Schlaglichter. 2018. S. 15 – Diese Veröffentlichung ist kostenlos zugänglich und über den Link zu laden und zu lesen.

Die Argumentationsfigur, mitzumachen, um „Schlimmeres zu verhüten“ findet man nicht nur bei Hüer und anderen in Gescher, in vielen Orten wurde die eigene Mitgliedschaft an nationalsozialistischen Verbänden, zum Beispiel in der SA oder in der NSDAP auf diese Weise als eigentlich ehrenwert dargestellt. Wiemold lässt Dr. Hüer selbst zu Wort kommen. (Wiemold, a. a. O., S. 69 f) Sein Zitat stammt aus der von Dr. Hüer selbst geschriebenen Rechtfertigung; diese liegt im Staatsarchiv Düsseldorf (NW 1047-1220). Hendrik Lange übernimmt es in seine oben zitierte Schrift auf S. 15. Auf einen Abdruck hier wird verzichtet, da es den Rahmen meines Beitrags sprengen würde. Den Link zu nutzen und es bei Lange nachzulesen, führt zu einem Einblick in eine von vielen Nationalsozialisten vorgetragene Argumentation, die der eigenen Rechtfertigung diente.

Hüers Aussage in seiner Rechtfertigung, dass er eine „christliche Schule“ habe erhalten können, passt nicht zu den von Eismann beschriebenen Fakten. Der Religionsunterricht wurde trotz anderslautendem Konkordat nicht erteilt (S. 56); er fand unter dem Dach der Kirchengemeinde statt. Die Inhalte der Schulbücher und Lehrpläne, die Unterrichts- und Erziehungsziele, die Abschaffung des Gebetes zu Beginn des Schulmorgens und vieles mehr ließen eine Orientierung an christlichen Werten und Erziehungszielen kaum zu. Eine Schule, in der Lehrerinnen wie Thaddey oder Ohlenburg den Ton setzten und ein Lehrer begeistert und freiwillig in einen Angriffskrieg zog, kann ebensowenig „christlich“ genannt werden.

Später – im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 – beschreibt Eismann eine schulische Veranstaltung, bei der Hüer die Attentäter verurteilt habe. Er sieht dies als Pflicht des Schulleiters an, der dieser sich nicht entziehen konnte, was zutreffend sein kann. Die Schulhelferin Ohlenburg soll sich auch bei dieser Veranstaltung als glühende Nationalsozialistin geäußert haben. In diesem Zusammenhang nennt auch Eismann Dr. Hüer einen „Mitläufer“.

Zu relativieren ist die Aussage, in der Eismann schreibt: „Dr. Huer hatte allerdings nach dem Kriege keine Probleme wieder als Rektor in den Schuldienst übernommen zu werden.“ (S. 63) Richtig ist, dass er schon bald wieder die Volksschule Geschers leitete, wenn auch nicht unverzüglich; die Rektoratsschule, von Hüer ins Leben gerufen und lange geleitet, wurde später zur Mittelschule und erhielt einen anderen Leiter, obwohl Hüer die Lehrbefähigung für eine Realschule besaß.

Was erfährt man über jüdische Kinder?

Man erfährt wenig. „Eines Tages erfolgte in unserem Dorf über Nacht der Abtransport der wenigen Judenfamilien.“ (S. 58)
Und: „Meine Schwester Agnes erzählte einmal, dass ihre beiden jüdischen Mitschülerinnen plötzlich nicht mehr die Schule besuchen durften.“
Angesichts der Bedeutung dieses schlimmen Kapitels hätte man in einem Buch mit diesem Titel mehr erwarten können.

Gestörte Schule

Die Fliegeralarme während der Unterrichtszeit, den partiellen, später vollständigen Ausfall von Unterricht gegen Ende des Krieges beschreibt Eismann ebenso wie die Tätigkeiten, die Kinder angesichts des Fehlens der Väter und Ehemänner übernehmen mussten. Und immer wurde er von Angst gepackt, wenn es Fliegeralarm gab oder die Jabos im Anflug waren. Mehrfach schildert er gefährliche, lebensbedrohliche Situationen.

Der totalitäre Anspruch von Partei und Staat

Nur wenige Bereiche konnten sich dem Einfluss der Partei und ihrer örtlichen wie überörtlichen Vertreter entziehen. Eismann schildert anschaulich, wie Jungvolk und Hitlerjugend ebenso wie die entsprechenden Einrichtungen für Mädchen (Jungmädelbund und Bund Deutscher Mädel) den Alltag bestimmten und ausfüllten. Kirchliche Gruppen wie zum Beispiel die Messdiener bildeten eine Nische.

Allerdings hatten es die Nazis in unserem Heimatdorf sehr schwer, die Kinder und Jugendlichen hinter sich zu scharen, weil ein geschickt agierender katholischer Jugendvikar sich mutig und erfolgreich dem Aufbau der Hitler-Jugend entgegenstellte.

Eismann, Otger: Kinderjahre im Schatten des Hakenkreuzes. Eine Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1945. Selbstverlag des Autors, Friesoythe 2020. S. 10

Das heißt nicht, dass es keine HJ und keinen BDM in Gescher gegeben hätte. Selbstverständlich wurden die meisten Jungen und Mädchen hier erfasst. An anderer Stelle beschreibt Eismann den Ablauf der Dienste im Jungvolk: Exerzieren, vormilitärische Übungen, Schießen mit dem Kleinkalibergewehr, aber auch Lagerfeuer und Abenteuer. Der Dienst hatte Elemente, die ihm gefielen, aber auch solche, an denen er sich nur widerwillig beteiligte. – Ein Foto im Buch zeigt einen seiner Brüder in HJ-Uniform.

Verschiedenes

Eismann beschreibt viele kulturelle Elemente des dörflichen Lebens seiner Kindheit: Heischegänge wie „Äppelken, Popäppelken“, Kinderspiele, Messdieneraufgaben, kirchliche und staatliche Jugendorganisationen, den elterlichen Kolonialwarenladen, den Alltag des Vaters, der Postbeamter war, und vieles mehr.

Die Familie, Mutter und Vater mit acht Kindern, von denen nur fünf den Krieg und seine Folgen überlebten, ist ein Element, das das Buch wie ein roter Faden durchzieht. Auch die dem Krieg folgende Besatzungszeit mit ihren Einschränkungen, überhaupt die Nöte und Mangelerfahrungen der Nachkriegszeit, nimmt Otger Eismann zum Schluss in den Blick.

Heute lebt Eismann als pensionierter Konrektor und emeritierter ständiger Diakon im Alter von 87 Jahren in Friesoythe, wo er auch lange Zeit Lehrer war.

Fazit

Das Buch ist verdienstvoll; es schildert anschaulich, wenn auch nicht immer frei von subjektiven Wertungen, die NS-Zeit während Otger Eismanns Kindheit. In älteren Gescheranern werden wohl Erinnerungen geweckt, mit deren Hilfe sie Übereinstimmungen und Unterschiede zu Eismanns Berichten ausmachen können. Jüngeren Menschen bietet es Einblicke in eine heute fast unvorstellbare Welt, in der fast alle Lebensbereiche durch Staat und Partei vereinnahmt waren. Gescher als Ort der Darstellung macht das oft abstrakt Dargestellte glaubwürdiger, konkreter und in Grenzen nachprüfbar.
Leider ist das Buch im Selbstverlag des Autors erschienen. Das Lektorat eines Verlages hätte dem Werk gutgetan, zum Beispiel die manchmal ausführlichen Wiederholungen vermeiden helfen.
Wer sich ein Bild vom Leben im Nationalsozialismus in Gescher machen will, wer nachvollziehen will, wie ein konkreter Junge aus einer realen Familie innerhalb und vor allem außerhalb der Schule in dieser schwierigen und schweren Zeit lebte, der ist bei den Erinnerungen des Zeitzeugen Otger Eismann gut aufgehoben. Bei der Bewertung von Personen oder Vorgängen, die der Autor vornimmt, muss man in Rechnung stellen, dass es um subjektive Wahrnehmungen eines Kindes geht, die schon 75 bis 80 Jahre überdauert haben.

Eismann, Otger: Kinderjahre im Schatten des Hakenkreuzes. Eine Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1945. Selbstverlag des Autors, Friesoythe 2020.
Preis 15 €