Recht auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule ab 2026

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PISA als Katalysator

Wir erinnern uns: Es ist gut 20 Jahre her, dass es in Deutschland den berühmten PISA-Schock gab. Neben dem Rückstand an Inhalten und Fertigkeiten in einigen Kernfächern wie Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften gab es auch eine Rückmeldung darüber, dass die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler sehr stark von den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen ihrer Familien abhingen. Die Schulministerien der Bundesländer reagierten damals schnell, um nicht zu sagen: hektisch.

Neben der Formulierung von Bildungsstandards, der Verwendung eigener landesweiter, teils bundesweiter, Vergleichstests in allen Schulformen und vielen Einzelmaßnahmen entschloss man sich, mehr Ganztagsschulen zu etablieren. So auch in Nordrhein-Westfalen. Es gab sie grundsätzlich schon in allen Schulformen als gebundene Form (d. h. verpflichtend für alle Schülerinnen und Schüler einer Schule), aber auch als offene Ganztagsschule, in der Kinder wahlweise für den Nachmittag angemeldet werden konnten – oder eben nicht. Der Unterschied ist nicht nur organisatorisch: Wenn alle Kinder einer Schule auch nachmittags in der Schule sind, können verpflichtender Unterricht, aber auch Betreuung und Erholung über den Tag verteilt angeboten werden. In einer offenen Ganztagsschule muss natürlich der verpflichtende Unterricht angeboten werden, wenn alle Kinder anwesend sind, also am Vormittag, während der Nachmittag für die Formen der Betreuung zur Verfügung steht. Das ist nicht optimal, angesichts der Wahlfreiheit aber nicht anders möglich.

An etlichen (Grund-)Schulen gab es auch lange vor dem Boom der Ganztagsschulen Formen der Übermittagsbetreuung wie die „Schule von acht bis eins“ oder „Dreizehn Plus“. Immer mehr dieser Formen wurden in Nordrhein-Westfalen wie in anderen Bundesländern in eine offene Ganztagsschule überführt. Erstaunlich ist, dass nach so langer Zeit, nach immerhin zwanzig Jahren forcierter Entwicklung, für die Einführung eines Rechtes auf den Besuch einer Ganztagsschule noch eine Frist von fünf Jahren – von 2021 bis 2026 – gesetzt wird. Schulen entwickeln sich langsam, und das ist in mancher Hinsicht auch gut so.

Ziele der Ganztagsschule

Die Ziele der Ganztagsschule kann man in drei Punkten zusammenfassen:

  • Individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler
  • Verringerung der Kluft zwischen den Kindern aus unterschiedlichen Milieus (Kompensation)
  • Vereinbarkeit von Familie und Beruf für die Eltern

Diese Ziele – wenn auch unterschiedlich formuliert – sind heute noch aktuell. Das Ziel, die Leistungen der Kinder aus benachteiligten Milieus zu verbessern, ist bislang nicht erreicht – nicht einmal annähernd. Jede PISA-Studie weist regelmäßig neu darauf hin, dass Deutschland hier seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Immer wieder müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass die Bildungschancen für Kinder aus wirtschaftlich schwierigen Verhältnissen bedeutend schlechter als für Kinder aus privilegierten Elternhäusern sind.

Diese Ziele zeigen, dass in der Schulentwicklung mehrere Stränge miteinander verwoben sind. Dass beide Eltern berufstätig sind, ist heute sehr viel häufiger der Fall als noch vor einigen Jahrzehnten. Sowohl die Steigerung des Familieneinkommens als auch die Möglichkeiten von Frauen und Männern, sich im Beruf zu verwirklichen und gleichzeitig in der Familie die Lasten gerechter zu verteilen, bilden eine starke Motivation dafür. Auf der anderen Seite sind Wirtschaft und Verwaltung auf viele potenzielle Arbeitskräfte angewiesen. Eine starke Nachfrage nach Ganztagsangeboten in Kitas und Schulen ist eine Folge dieser Situation. Ganztagsbetreuung erwies sich zunehmend als ein Kriterium der Schulwahl, so dass Schulen und Schulträger den Ausbau von Ganztagsschulen forcierten, um ihre Schülerzahlen zu halten.

Viele Kommunen entschlossen sich, den Eltern für ihre Kinder – vor allem im Bereich der Grundschule – ein Ganztagsangebot zu machen. Etliche CDU-regierte Städte und Gemeinden taten sich zunächst schwerer mit einer solchen Entscheidung, weil das Familienbild der Ratsvertreter traditioneller an den Rollenbildern von berufstätigen Vätern und Hausfrauen-Müttern orientiert war. Der Nachfragedruck brachte aber auch hier bald einen Wandel.

Impulse in der Fachliteratur

Die Verlage haben seinerzeit die Gelegenheit ergriffen, den Ganztagsschulen und den Schulträgern, nicht nur im Bereich der Grundschule, Praxishilfen an die Hand zu geben. Der im Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest arbeitende Referent für das Thema Ganztagsschule, Dr. Joachim Schulze-Bergmann und ich wurden vom Forum-Verlag in Merching als Herausgeber einer Loseblattsammlung zum Thema „Praxis der Ganztagsbetreuung an Schulen“ angefragt. Nach einer kurzen Beratung stimmten wir zu. Wir haben von 2003 an etwa zehn Jahre lang eine Lose-Blatt-Sammlung als Herausgeber betreut. Viele Texte haben wir auch selbst geschrieben. Das Bundesbildungsministerium hat kurz nach Erscheinen das Werk wohlwollend vorgestellt. Die Rezension kann man hier lesen.

Pädagogische Ziele in den Vordergrund

Das Bedürfnis nach einer Ganztagsbetreuung, das aus dem Wunsch nach Berufstätigkeit beider Eltern resultierte, stand bei politischen Entscheidungen oft im Vordergrund. Schulen haben dagegen in erster Linie das Wohl der Schülerinnen und Schüler im Auge, sie haben einen Bildungsauftrag. Das heißt: Neben dem Unterricht haben sie auch die Betreuungsangebote so zu gestalten, dass sie der pädagogischen Zielsetzung entsprechen, ihnen zumindest nicht widersprechen. Nicht jedes Spiel, nicht jedes Angebot muss darauf abgeklopft werden, welchen Ertrag es an „Bildung“, an „Lernen“ für die Schüler bringt; das Wesen mancher Spiele ist geradezu ihre Zweckfreiheit. Aber selbstverständlich sind Spiele ungeeignet, die Bildungszielen widersprechen: Gewaltverherrlichung, Diskriminierung, Rassismus, auch übertriebener Wettbewerb zu Lasten schwächerer Kinder und ähnliche Bestandteile von Spielen sind Ausschlusskriterien.

Besondere Aufmerksamkeit braucht das Ziel der Kompensation, das ohne individuelle Förderung nicht funktioniert. Das Entdecken und Fördern von Begabungen muss sich auf alle Kinder und Jugendlichen beziehen; Kinder, deren Elternhaus schwierige Startbedingungen setzt, brauchen mehr – personelle wie sächliche – Ressourcen. Es geht immer darum, den Bildungsgang eines jeden Kindes so zu planen und zu gestalten, dass seine Begabungen erkannt, geweckt und gepflegt werden.

Distanzunterricht – das Gegenteil von Ganztagsschule

In der Pandemie waren Klagen von Eltern zu hören, die neben ihrem „Home-Office“ auch „Home-Schooling“ zu leisten hatten. Natürlich ist es fatal, wenn die gesellschaftspolitische Aufgabe der Ganztagsschule nicht erfüllt werden kann, Eltern die Berufstätigkeit zu ermöglichen oder zumindest zu erleichtern.

In den ersten Wochen und Monaten mussten alle Beteiligten – Eltern, Schüler und Lehrer – sich in die Situation einfinden. Zunehmend gelang es den Schulen, Konzepte zu entwickeln, die auf digitalen Wegen eine Form von Unterricht ermöglichten, die trotz der fehlenden Lehr- und Lern-Gemeinschaft in der Schule als Gebäude die Verantwortung der Schulen realisierte.

In vielen Köpfen gab es lange Zeit das Missverständnis von „Homeschooling“, dass Eltern den Unterricht übernähmen. Die Verantwortung liegt jedoch immer bei der Schule – für Inhalte, für Ziele und für Realisierung. Dass es in einer solchen Situation einer Abstimmung zwischen Eltern und Schule bedarf, dass ihre Aktivitäten aufeinander zu beziehen sind, ist selbstverständlich. Ich verweise hier auf meinen Beitrag über das „Homeschooling“

Es bleibt zu hoffen, dass die wichtige Komponente von schulischem Unterricht – das Geschehen in Gemeinschaft – nicht wieder solange und sooft unterbrochen wird, wie im Schuljahre 2020/21. Die Politiker haben vielleicht gelernt, dass man auf Dinge vorbereitet sein muss, die geschehen können, ob in Fukushima ein atomarer GAU oder in der ganzen Welt eine Pandemie. Die Ausstattungen nicht nur der Schulen, sondern auch der Schüler muss regelmäßig aktualisiert werden. In den Schubladen der Schulministerien müssen Notfallpläne liegen, die ohne unnötigen Zeitverlust angepasst und aktiviert werden können. Chronisch kranke Schüler, Schüler in Quarantäne oder nach einem Unfall, die über längere Zeit die Schule nicht besuchen, können mithilfe dann vorhandener Ausstattung an ihre Klasse angedockt werden. Katastrophen wie zuletzt die Flut in Rheinland-Pfalz und in Nordrhein-Westfalen vernichten oder beschädigen Schulgebäude; auch für solche Fälle eignen sich Ausstattung und Notfallpläne.

Fazit

Ganztagsschulen haben sich etabliert. Sie kosten nicht nur die Schulträger Geld, sondern auch die Eltern. In gebundenen Ganztagsschulen muss das Mittagessen bezahlt werden, in offenen Schulen – in der Regel sind es Grundschulen – auch das Betreuungsangebot.
Dafür werden Träger der Maßnahmen beauftragt, die ganz unterschiedlicher Herkunft sind: Rotes Kreuz, Caritas, gemeinnützige Vereine oder gGmbHs. Wenn deren Kapazitäten erschöpft sind, werden weitere Kinder nicht aufgenommen. Nun also hat man sich bundesweit dazu durchgerungen, in fünf Jahren allen Eltern einen Platz in einer Ganztagsschule zu garantieren.