Seit über 40 Jahren gibt es in Nordrhein-Westfalen 10. Klassen vom Typ A. Sie sind heute nicht mehr sinnvoll, und fraglich ist, wann und wie lange der Aufwand ihrer Unterhaltung überhaupt sinnvoll war. Ein Blick in die Geschichte und ein Vergleich mit der Gegenwart zeigt, dass die Gründe für ihre Einrichtung entfallen sind.
Zehnjährige Vollzeitschulpflicht
In Nordrhein-Westfalen gibt es die Hauptschule noch, hier heißt sie auch noch Hauptschule. Früher – vor der Wiedervereinigung – galt das für das ganze damalige Bundesgebiet. Worin sich NRW von etlichen anderen Bundesländern unterschied und auch heute noch unterscheidet, ist die zehnjährige Vollzeitschulpflicht für grundsätzlich alle Schülerinnen und Schüler. (Ausnahmen sind im Paragraphen 37 des Schulgesetzes geregelt.)
Hier eine Übersicht über die Dauer der Schulpflicht in den Bundesländern:[1]
Bundesland | Beginn der Schulpflicht (Stichtag) | Ende der Schulpflicht |
Baden-Württemberg | 30. September | 9 Jahre Vollzeitschulpflicht + 3 Jahre Berufsschulpflicht |
Bayern | 30. September | 12 Jahre (davon 9 Jahre Vollzeitschulpflicht) |
Berlin | 30. September | 10 Jahre Vollzeitschulpflicht + Ausbildung |
Brandenburg | 30. September | 10 Jahre Vollzeitschulpflicht + Ausbildung |
Bremen | 30. Juni | 12 Jahre (davon 10 Jahre Vollzeitschulpflicht) |
Hamburg | 30. Juni | 11 Jahre |
Hessen | 30. Juni | 9 Jahre Vollzeitschulpflicht + Ausbildung |
Mecklenburg-Vorpommern | 30. Juni | 10 Jahre Vollzeitschulpflicht + 3 Jahre Berufsschulpflicht |
Niedersachsen | 30. September | 9 Jahre Vollzeitschulpflicht + Ausbildung |
Nordrhein-Westfalen | 30. September | 10 Jahre Vollzeitschulpflicht + Ausbildung |
Rheinland-Pfalz | 31. August | 12 Jahre |
Saarland | 30. Juni | 9 Jahre Vollzeitschulpflicht + 3 Jahre Berufsschulpflicht |
Sachsen | 30. Juni | 9 Jahre Vollzeitschulpflicht + 3 Jahre Berufsschulpflicht |
Sachsen-Anhalt | 30. Juni | 12 Jahre |
Schleswig-Holstein | 30. Juni | 9 Jahre Vollzeitschulpflicht + 1 Jahr Berufsschulpflicht |
Thüringen | 1. August | 10 Jahre Vollzeitschulpflicht + Ausbildung |
Einführung der Klassen 10 Typ A und 10 Typ B
In NRW wurde die zehnjährige Vollzeitschulpflicht 1980 eingeführt. Die historische Situation war in den Schulen und auf dem Ausbildungsmarkt durch zwei Elemente gekennzeichnet:
- Die Schülerzahlen in den Hauptschulen sanken. Grund war der Rückgang der Kinder- und damit Schülerzahlen einerseits und ein verändertes Schulwahlverhalten der Eltern andererseits. Letzteres bedeutete, dass die Hauptschule immer weniger, Realschulen und Gymnasien immer mehr Kinder aufnahmen. Das führte zu einem Lehrerüberhang an Hauptschulen.
- Auf dem Ausbildungsmarkt waren Lehrstellen knapp. Manche Schüler in Abschlussklassen schrieben zwischen 50 und 100 Bewerbungen, die oft erfolglos blieben.
Um zu vermeiden, dass Schüler ohne Berufsausbildung in großer Zahl ins berufsbildende Schulwesen wechselten, schuf man ein Auffangbecken an den Hauptschulen, die Klasse 10 Typ A. Es kam also zu der Situation, dass nach der 9. Klasse der bundeseinheitliche Hauptschulabschluss erreicht wurde, die Hauptschule jedoch ein weiteres Jahr zu besuchen war. Am Ende dieses Jahres erreichten die Schüler den landeseigenen Hauptschulabschluss nach Klasse 10, der gegenüber dem Hauptschulabschluss nur wenige weitere Berechtigungen bot.
Schon seit Beginn der Hauptschule in NRW im Jahre 1968 gab es ein freiwilliges 10. Schuljahr, eine Aufbauklasse als Schulversuch, die von Schülerinnen und Schülern besucht werden konnte, die den mittleren Bildungsabschluss (Realschulabschluss) erwerben wollten. Sie mussten für die Aufnahme in diese Klasse im Abschlusszeugnis der 9. Klasse bestimmte Leistungen nachweisen. Gegenüber der Volksschuloberstufe war das ein wesentlicher Fortschritt, der die Hauptschule aufwertete: Die Hauptschule schuf eine vertikale Durchlässigkeit, Hauptschüler waren nicht mehr in einer Sackgasse, sondern konnten über diese Aufbauklasse mit den entsprechenden Leistungsnoten im Zeugnis sogar die Qualifikation für den Besuch der gymnasialen Oberstufe erwerben.
Für den Abschluss eines Ausbildungsvertrages reichte der Hauptschulabschluss nach Klasse 9, daher war der Besuch der Klasse 10 Typ A mit nur wenig „Mehrwert“ verbunden. Die Motivation zum verpflichtenden Besuch einer Schule, die nicht viel zu bieten hatte, die im Gegenteil dem Schüler erneut einen Versager-Stempel aufdrückte, war gering. Die Anforderungen des Lehrplans gingen nicht nennenswert über die Ziele der 9. Klasse hinaus. Projekte und Praxisorientierung standen als positive Aspekte im Vordergrund.
Die Ausbildungsbetriebe zogen aus der Situation Konsequenzen: Als ich Leiter der Don-Bosco-Schule, einer Gemeinschaftshauptschule, in Gescher war (1982-1990) teilten mir örtliche Betriebe mit, sie würden in Zukunft nur noch Lehrstellen an Absolventen der Klasse 10 Typ B vergeben. Dieser Umstand förderte die Motivation der Schüler der Klasse 10 Typ A nicht, im Gegenteil.
Schafft die Klasse 10 Typ A ab
Heute – nach über 40 Jahren – haben wir eine andere Situation.
- Der Ausbildungsmarkt ist vom großen Angebot an Ausbildungsstellen bestimmt. Arbeitgeber suchen aufwendig nach (passenden) Azubis.
- Das Schulministerium hat durch seine Politik einen umfassenden Lehrermangel provoziert. Nicht zuletzt hat man versäumt, aus der Zahl der neugeborenen Kinder frühzeitig die Zahl der später benötigten Lehrerstellen zu errechnen.
Die Konsequenz kann nur sein: Die Klasse 10 Typ A verschlingt Ressourcen (Lehrpersonal, Räume, Lehrmittel) und verbummelt Lebenszeit von Jugendlichen. Den Fünfzehnjährigen den Weg in den Beruf, in ein Ausbildungsverhältnis zu ermöglichen, ohne eine Warterunde in der Schule zu drehen, wäre jetzt der richtige Weg.