Fachkräftemangel, Überakademisierung?

Gepostet von

Diese Schlagworte findet man aktuell zum Beispiel auf SPIEGEL.de. Wirtschaftsfunktionäre führen den Fachkräftemangel auf eine „Überakademisierung“ zurück. Das ist vielleicht etwas zu kurz gesprungen. Es gab Zeiten, in denen Bewerber um einen Ausbildungsplatz aus Haupt- oder Realschulen nicht eingestellt wurden und – wollten sie nicht auf der Straße stehen – in Vollzeitbildungsgänge der Berufsschulen auswichen, dort oft die Fachhochschulreife oder das Abitur schafften und studierten.

Fehlen nur nicht-studierte „Fachkräfte“? Fehlen heute nicht auch viele Lehrer? Überakademisierung?

Aber werfen wir einen Blick in Vergangenheit und Gegenwart.

Bildungskatastrophe

„Bildungskatastrophe“ ist ein Wort aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Georg Picht hat mit seiner Schrift Die deutsche Bildungskatastrophe einen Impuls gesetzt, der die Forderung trug: „Schickt eure Kinder länger auf bessere Schulen!“ „Bessere Schulen“ waren Realschulen und Gymnasien. Die „katholische Arbeitertochter vom Lande“ war die Kunstfigur, die die Verkörperung der Benachteiligung im Bildungssektor griffig zusammenfasste. (Die Formulierung wird Ralf Dahrendorf zugeschrieben.)

In den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg gingen im Anschluss an die 5. oder 6. Klasse der Volksschule nur wenige Kinder zur Realschule oder zum Gymnasium über. In wenig gegliederten Landschulen waren es einzelne, weil der Weg vom elterlichen Hof zur Stadt oder zur Klosterschule oft lang und aufwändig war. Jungen wurden im Einzelfall im Internat eines Ordens mit angeschlossenem Gymnasium aufgenommen, nicht selten mit der Perspektive, Priesternachwuchs zu generieren. In Städten mit voll ausgebauten Volksschulen wurden vielleicht drei, vier oder fünf Kinder einer Klasse in Realschulen oder Gymnasien angemeldet. Die Übergangsquote für beide Schulformen zusammen lag damals – grob geschätzt – bei 10 %, etwa 90 % blieben acht Jahre in der Volksschule.

Von der Volksschule zur Hauptschule zu „besseren“ Schulformen

1968 wurde die Hauptschule in der damaligen Bundesrepublik Deutschland als „Schule weiterführender Bildung“ eingeführt. Im Bewusstsein der Bevölkerung verfing dieses Etikett nicht; Gymnasien und Realschulen nahmen die leistungsfähigeren Schüler auf, denen von der Grundschule der Besuch dieser Schulformen empfohlen oder ermöglicht wurde. Für die Hauptschule brauchte es keine Empfehlung oder ein Gutachten, zur Hauptschule kam man ganz ohne Filter. Schon früh war daher die Rede von der „Restschule“.

Wohlmeinende Politiker sprachen beschwichtigend von der „praktischen“ Begabung der Hauptschüler im Gegensatz zur „theoretischen“ Begabung der Gymnasiasten. (Die Realschüler waren auf dieser Skala weder Fisch noch Fleisch, vielleicht aber auch beides.) Nun mag man streiten, ob diese Begrifflichkeiten sinnvoll sind. Sicher ist es aber nicht so, dass das Fehlen einer „theoretischen“ Begabung (Abstraktionsvermögen, verbale Intelligenz…) zwingend eine „praktische“ Begabung zur Folge hat (Konkretes Denken, Handlungsintelligenz). Und seltsam: Umgekehrt hat niemand das Fehlen einer „praktischen“ Begabung mit einer dann zwangsläufig vorhandenen „theoretischen“ Begabung verbunden.

Die „Querverschiebung“ im Schulwahlverhalten

In der Folge gab es zwei Entwicklungslinien:

  • Der „Pillenknick“ führte zu insgesamt abnehmenden Schülerzahlen.
  • Die Eltern veränderten ihr Schulwahlverhalten, von Hauptschulen zu Realschulen, Gesamtschulen und Gymnasien, von Realschulen zu Gymnasien und Gesamtschulen.

Diese Prozesse beschleunigten sich Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre, zunächst allmählich, dann immer schneller. Hier haben wir eine Grafik aus Rheinland-Pfalz, die die Veränderungen zwischen 1988 und 2005 in den Regelschulen abbildet. (Regionale Schulen oder Regionalschulen gibt es in Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Sie bestehen aus einer Zusammenlegung der Bildungsgänge von Haupt- und Realschule, ähnlich der Verbundschule, die es kurze Zeit in NRW gab.)
Wie man sieht, ändert sich von 1988 bis 2005 die Übergangsquote zur Hauptschule von etwas mehr als 40 % zu etwas weniger als 14 %.

Übergangsquoten Rheinland-Pfalz 1988-2005

Und hier noch Zahlen aus Nordrhein-Westfalen:

Übergangsquoten NRW von 2007 bis 2017

Die Hauptschulen verloren, wie man leicht erkennen kann, auch in Nordrhein-Westfalen Schüler in absoluten und relativen Zahlen. Von über 60 % in der ersten Zeit nach ihrer Einführung sanken die Übergangsquoten von der 4. Klasse der Grundschule zur Hauptschule Schritt für Schritt auf unter 5 % im Jahr 2017. Zehn Jahre früher waren es immerhin noch 15 %. Zu diesem Prozess trugen auch Unternehmen bei, die schon in den achtziger Jahren keine Auszubildenden mit Hauptschulabschluss mehr aufnahmen. In meiner Zeit als Leiter einer Hauptschule (1981-1990) schrieben Schüler der 9. Klasse (Hauptschulabschluss) oder 10 Typ A (Sekundarabschluss I) teils über 50 erfolglose Bewerbungen, nur die Absolventen der Klasse 10 Typ B (Fachoberschulreife) hatten etwas bessere Chancen.

Weniger Schüler, mehr Realschulen und Gymnasien

Gymnasien und Realschulen nahmen – absolut und relativ – mehr Kinder auf, um ihre Existenz und ihren Stellenplan zu sichern, und senkten die Ansprüche, um sie zu halten. Kommunen gründeten noch vor 20 bis 30 Jahren trotz abnehmender Gesamtzahlen an Schülern neue Realschulen und Gymnasien.

Exkurs: Stadtlohn und Vreden

Ein Beispiel aus den neunziger Jahren: Jahrzehntelang hatten die beiden nebeneinander liegenden Städte Stadtlohn und Vreden im westlichen Münsterland zusammen folgende Schulen im Sekundarbereich der Regelschulen (also ohne Sonder- bzw. Förderschulen):

Bis etwa 1990:

  • 1 Gymnasium (in Vreden)
  • 2 Realschulen (in Stadtlohn, eine in privater, eine in kommunaler Trägerschaft)
  • 4 Hauptschulen (2 in Stadtlohn, 2 in Vreden – davon jeweils eine katholische Konfessions- und eine Gemeinschaftsschule)
  • Summe: 6 Schulen

1998:

  • 2 Gymnasien (je eins in Vreden und Stadtlohn)
  • 3 Realschulen (2 in Stadtlohn, eine in Vreden)
  • 4 Hauptschulen (je zwei in Stadtlohn und Vreden)
  • Summe: 9 Schulen

2018:

  • 2 Gymnasien (je eins in Vreden und Stadtlohn)
  • 2 Realschulen (beide in Stadtlohn)
  • 1 Hauptschule (in Stadtlohn)
  • 1 Sekundarschule (in Vreden)
  • Summe: 6 Schulen

In der Summe sind die beiden Städte wieder dort, wo sie lange vor1990 gestartet waren. Allerdings – die Realschule und Gymnasium haben die Hauptschulen bis auf eine verdrängt. Die Sekundarschule wurde errichtet, weil eine Hauptschule und eine Realschule alleine nicht überleben konnten. Für Neubauten, die letztlich überflüssig waren, haben die Städte Geld ausgegeben, und die Bezirksregierung hat es genehmigt.

„Querverschiebung“ auch im Ausbildungsmarkt

Ohne (funktionierende) Hauptschulen sind auch die Schulformen Realschule und Gymnasium nicht mehr das, was sie einmal waren. Ehemalige Hauptschüler besuchen die Realschulen, ehemalige Realschüler besuchen die Gymnasien. Wenn man überhaupt ein dreigliedriges Schulsystem in der Sekundarstufe I will, sind gute Hauptschulen unabdingbar. Andernfalls übernehmen die verbleibenden Realschulen und Gymnasien deren Funktion mit: Absolventen des Gymnasiums gehen auch in die duale berufliche Ausbildung, nicht nur ins Studium. Dabei gehen sie in Bereiche von Wirtschaft und Verwaltung, die früher von Absolventen der Realschule besetzt waren. Realschüler nehmen Ausbildungsstellen im Handwerk wahr, die früher Domänen der Hauptschüler waren.

Nicht nur Vorbereitung auf ein Studium, auch Berufsvorbereitung im Gymnasium

Während das Gymnasium seit jeher auf ein Studium vorbereiten sollte und wollte, bietet es jetzt die Vorbereitung auf einen Ausbildungsberuf ebenso wie Gesamt-, Haupt- und Realschulen an. Auch bei ihnen findet man Schülerbetriebspraktika, Sprechstunden der Berufsberatung und Ähnliches. Deutlicher kann man es nicht zeigen, dass das Aufwachsen von Schulen mit Abituroption den Platz von Hauptschulen und Realschulen mit besetzt haben. Bei Gesamtschulen gehört das seit ihrer Gründung zum integrativen Charakter dieser Schulform, beim Gymnasium entspricht es nicht dem ursprünglichen Gründungsauftrag, nämlich auf das Studium vorzubereiten. Hochschulen reagieren darauf und bieten Erstsemestern mancher Fächer Kurse an, die sie in die Lage versetzen sollen, das Studium aufzunehmen. Im Gegenzug nehmen viele Unternehmen vermehrt Abiturienten in Ausbildungsstellen auf, allen voran Behörden, Versicherungen, Banken und Sparkassen. Aber auch in technischen und handwerklichen Ausbildungsstellen sind Abiturienten anzutreffen.

Inflation sehr guter Noten

Generationen von Schülern kannten keine Durchschnittsnoten von 1,0 im Abitur – jetzt kommen sie in fast jeder Schule vor. Etwa 20 % der Abiturienten gehen mit einer 1 vor dem Komma, je nach Bundesland etwas mehr oder weniger; zwischen 1,5 % und 2,5 % gehen gar mit 1,0 ab.

Das Abitur und das Sozialprestige

Das Abitur hat neben den realen formalen Berechtigungen (Studium an einer Hochschule, Universität …) noch ein hohes Ansehen, gerade bei einer Elterngeneration, in der viele gerne selbst eine Reifeprüfung abgelegt hätten. Eltern, die selbst Akademiker sind, halten das Abitur des Nachwuchses eher für eine Selbstverständlichkeit.

Heute machen deutlich mehr junge Menschen ein Abitur als früher. 1970 nur jeder zehnte, 1990 schon jeder fünfte und 2016 waren es bereits 40 Prozent. 

https://www.bpb.de/themen/bildung/dossier-bildung/306866/faktencheck-noteninflation-wird-das-abi-wirklich-immer-leichter/

Ich vermute, dass das Ansehen des Abiturs sich ändern wird. Das Abitur wird zurzeit inflationär vergeben; damit verbindet sich nicht mehr die Erwartung, im Abiturienten einen besonders begabten oder gebildeten Menschen zu sehen. Wenn etwa die Hälfte eines Jahrgangs die Reifeprüfung ablegt, dann schwindet der Ruch des Besonderen. Im berufsbildenden Schulwesen und bei Weiterbildungsträgern gibt es Angebote zur Qualifizierung und Zertifizierung, die eine bessere Vorbereitung auf den Beruf oder den nächsten Karriereschritt bieten, als es ein Abitur leisten kann. Längst verdienen manche Handwerker deutlich mehr als viele Akademiker, die sich an einer Hochschule von Projekt zu Projekt, von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln.

Wo sind noch Ressourcen?

Die beiden hier beschriebenen Möglichkeiten werden zum Teil schon genutzt, sie sind aber beide ausbaufähig. Gerade bei der Erlaubnis, allen integrationswilligen und -fähigen Flüchtlingen grundsätzlich Arbeit und Geld verdienen zu erlauben, ist noch viel (politische) Luft nach oben.

Zuwanderung

Zuwanderung bietet auf verschiedenen Ebenen Arbeitskräfte an. Der eine Weg ist gezielte Werbung im Ausland, der andere Weg ist Qualifizierung der schon im Land vorhandenen Migranten. Die Qualifizierung fängt bei der Sprache an, auch bei der Fachsprache, und kann unter Umständen vorhandene Kompetenzen nutzen. Wenn die Anerkennung eines (Hoch-)Schulabschlusses, einer Approbation oder ein ähnlicher Verwaltungsakt erforderlich ist, muss es gangbare Wege geben – zum Beispiel Anerkennungsprüfungen.

Schüler mit Leistungsdefiziten

Auch unter Schülern mit Leistungsdefiziten gibt es Potenziale. Hier braucht es eine genaue Analyse der vorhandenen Fähigkeiten einerseits und der Defizite andererseits. Maßgeschneiderte Förderung verringert die Defizite, ein möglicher Ausbildungsberuf muss passgenau angeboten werden. Dass das nicht bei allen Schulabgänger mit schwachen Leistungen gelingt, ist selbstverständlich. Dass aber in manchem Beruf Fähigkeiten gebraucht werden, die in der Schule keine oder nur eine geringe Rolle spielen, ist auch richtig.

Fazit

  • Das Streben nach höheren Bildungsabschlüssen hat viele Ursachen. Eine ist darin zu sehen, dass man sich auf dem Ausbildungs- und dem Arbeitsmarkt bessere Chancen ausrechnet, für mehr Lohn, für mehr Sozialprestige.
  • Die Zahl von (Fach-)Abiturienten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht – in absoluten wie in relativen Zahlen.
  • Abiturienten besetzen Ausbildungsplätze, die früher Haupt- oder Realschulabgängern vorbehalten waren. Daher ist eine „Überakademinsierung“ kaum der Grund für den Fachkräftemangel. Es gibt und gab zu wenig Kinder, die sich als junge Erwachsene um einen Ausbildungsplatz bewerben könnten.
  • Absolventen mit einem Hauptschulabschluss bleiben oft „zweite Wahl“. Sie zu qualifizieren kann sich für Gesellschaft und Wirtschaft lohnen.
  • Abhilfe kann von Zuwanderung kommen. Wer integriert oder dazu bereit ist, sollte arbeiten dürfen. Den „Spurwechsel“ zu verhindern, ist kontraproduktiv und populistisch.
  • Die Qualifizierung von Migranten – gleich ob Asylbewerber, Flüchtling, geduldet oder mit Bleiberecht – sollte systematisch erfolgen.
  • Vorhandene Ausbildungen und Berechtigungen von Zuwanderern sollten schneller anerkannt bzw. deren Kompetenzen geprüft werden. Selbstverständlich gibt es berufsspezifische Mindeststandards, die erfüllt sein und unter Umständen nachgearbeitet werden müssen.