Lehrermangel? Schafft das Sitzenbleiben ab!

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Ein Beispiel aus alter Zeit

Als junger Lehrer – vor mehr als fünfzig Jahren – unterrichtete ich in einer Landschule. Ein achtjähriger Junge hatte Probleme mit dem Lernen. Es ging um Kulturtechniken – Lesen und schriftliche Rechenverfahren. Ich suchte die Eltern auf, erläuterte ihnen die Schwierigkeiten und wies darauf hin, dass möglicherweise eine Nichtversetzung auf den Jungen zukam. Am Ende des Gesprächs rief die Mutter ihren Sohn zu sich. Sie erzählte ihm, worüber wir gesprochen hatten, dann ermahnte sie ihn, er müsse sich mehr anstrengen, und versprach ihm ein neues Fahrrad, wenn er versetzt werde.

Was war da geschehen? Die Mutter meinte offenbar, es fehle ihrem achtjährigen Sohn am Willen, sich „anzustrengen“. Wie genau das aussehen könnte, „sich anzustrengen“, blieb ihm verborgen. Um ihn zu motivieren, versprach sie ihm ein großes Geschenk, mit anderen Worten: sie setzte ihn unter Druck.

Wenn man mit Befürwortern des Sitzenbleibens heute spricht, werden genau diese Aspekte immer wieder genannt. Sie unterstellen, …

  • … dass es in nennenswertem Umfang Kinder gibt, denen es gleich ist, ob sie versetzt werden oder nicht. Solch ein Kind ist mir nie begegnet.
  • … dass es Kinder gibt, die unter Druck besser lernen. Druck entsteht durch die Aussicht auf eine Belohnung ebenso wie durch Angst vor Strafe oder Versagen. Die klassischen Experimente von Wolfgang Metzger belegen das Gegenteil.1

Selbstverschuldeter Lehrermangel?

Den Schulministerien werfen Kritiker vor, man hätte wissen können, dass ein Lehrermangel droht. Diese Kritiker haben recht, man hätte es wissen können – soweit es sich um in Deutschland geborene Kinder handelt. Man konnte aber nicht wissen, dass verschiedene Flüchtlingswellen Kinder und Jugendliche in der großen Zahl in die Schulen bringen würden, wie wir sie seit ungefähr zehn Jahren beobachten. Lösungsansätze gibt es – Seiteneinsteiger, weniger Teilzeit, Unterricht durch Pensionäre, … -, aber sie reichen vorne und hinten nicht. Ein besonders origineller Ansatz kommt aus Bayern: dort will man Lehrkräfte aus anderen Bundesländern abwerben. Dabei liegt eine Ressource auf der Hand, die man offenbar nicht anfassen will: Man könnte das Sitzenbleiben abschaffen.

Ein Blick in die aktuelle Schulstatistik

Im Schuljahr 2021/22, so berichtet das Statistische Bundesamt am 30. Januar 2023 , sei die Zahl der Sitzenbleiber in Deutschlands Schulen auf 155.800 Schülerinnen und Schüler gestiegen; das sind 2,4 % aller Schüler, die freiwillig oder weil sie nicht versetzt wurden, ein Schuljahr wiederholten. Nicht für alle, aber für die meisten heißt das: Sie bleiben ein Jahr länger in der Schule. Sie wiederholen ein Jahr in allen (!) Unterrichtsfächern, obwohl sie vielleicht nur in zwei Fächern nicht ausreichende Leistungen erbracht haben. Es ist nicht einzusehen, wenn bei einem „mangelhaft“ in Mathematik und Englisch auch Biologie, Sport, Deutsch und alle übrigen Fächer wiederholt werden müssen – und für diese Schüler in diesen nicht defizitären Fächern Lehrerstunden eingesetzt werden sollen.

Wie viele Stellen könnten eingespart werden?

Je nach Schulform und Schulstufe ist die Schüler-Lehrer-Relation unterschiedlich. Nehmen wir einmal einen Wert von 18 Schülern an, der einen Lehrerstellenbedarf von 1,0 generiert, dann steigt der Lehrerbedarf bundesweit allein durch Sitzenbleiber um etwa 8.700 Stellen. (Beispiele aus Nordrhein-Westfalen zur Lehrer-Schüler-Relation im Schuljahr 2022/23: 12,70 Schüler in der Sekundarstufe II von Gymnasium und Gesamtschule, 17,86 in der Hauptschule, 21,95 in der Grundschule usw.)

Natürlich würde sich die erwähnte Zahl von 8.700 einzusparenden Stellen durch verschiedene Faktoren verringern:

  • Da sind zum Beispiel die freiwilligen Wiederholer. Ein Schuljahr zu wiederholen ist sinnvoll, wenn ein Kind – vielleicht durch Unfall oder Krankheit – weite Teile eines Schuljahres verpasst hat. Im Einvernehmen zwischen allen Beteiligten ist eine solche Wiederholung nicht mit dem öffentlichen Makel des Versagens behaftet, sondern wird als Erleichterung wahrgenommen.
  • Und natürlich braucht es auch für die Kinder Unterstützung, die aus unterschiedlichen Gründen Probleme in einzelnen Fächern, auf einzelnen Gebieten oder mit dem Unterrichtsstil einzelner Lehrkräfte haben. Diese Unterstützung kann in Fördergruppen realisiert werden und würde – anders als eine erzwungene Nichtversetzung – dem Auftrag individueller Förderung entsprechen.

In jedem Fall würde eine Zahl von mehreren tausend Lehrerstellen bleiben, die nicht besetzt werden müssten, wenn die Sitzenbleiber nicht eine ganze Klassenstufe wiederholen müssten. Damit wäre der Lehrermangel nicht behoben, aber gemildert.

Und weitere Folgen?

  1. Kinder und Jugendliche blieben im gewohnten sozialen Umfeld. Ein Wechsel in eine völlig andere Lerngruppe für alle Unterrichtsfächer nötigt neben den fachlichen Anforderungen dem Sitzenbleiber auch die Bewältigung sozialer Prozesse ab. Und – nicht zu vergessen – auch die aufnehmende Lerngruppe wird durch die notwendige integrative Arbeit belastet.
  2. Der Verbleib in einer Klassenstufe ist mit dem Etikett „Versager“ versehen, unter dem oft die ganze Familie leidet.
  3. Dieses Etikett wird im Lebenslauf in der Regel sichtbar sein. Bei jeder Bewerbung kann es wieder zum Vorschein kommen.

Widerspruch zwischen Forschung und Schulpraxis

Die pädagogische Literatur ist seit Jahrzehnten, schon seit der Reformpädagogik des letzten Jahrhunderts, voll mit Hinweisen auf die Nachteile der bestehenden Praxis von Nichtversetzung.2 Die Bundesländer gehen unterschiedlich mit der Problematik um. Auch die Schulformen unterscheiden sich in der Häufigkeit; nach Medienberichten aus 2016 war damals die Realschule Spitzenreiter mit 49 von 1.000 Schülern, die eine Klasse wiederholten.

Mittlerweile gibt es relevante Ansätze, die Zahl der Sitzenbleiber zu verringern:

  • In Berlin ist das Sitzenbleiben weitgehend abgeschafft; es wird nur noch in Gymnasien praktiziert. Im Übrigen gibt es die Möglichkeit der freiwilligen Wiederholung.
  • In den Grundschulen Nordrhein-Westfalens, aber auch in anderen Bundesländern gibt es nach dem ersten Schuljahr kein Sitzenbleiben. In etlichen Schulen gibt es in der Schuleingangsphase altersgemischte Lerngruppen, die die ersten zwei Jahrgangsstufen umfassen.
  • Auch im gegliederten Schulwesen der Sekundarstufe I (Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien) gibt es in der Orientierungsstufe (auch Erprobungsstufe genannt) keine Versetzung oder Nichtversetzung, sondern einen Übergang von Klasse 5 nach Klasse 6 für grundsätzlich alle Schüler.
  • In den Gesamtschulen (und in NRW auch in Formen der Sekundarschule) gibt es kein Sitzenbleiben, wohl ein einvernehmliches Wiederholen von Jahrgangsstufen. Hier wird erst mit der Klasse 9 eine Art Versetzungsordnung relevant, weil die Zuerkennung des Ersten Bildungsabschlusses (oder nicht) hier erfolgt. Die Förderung in den Fächern, die der konkrete Schüler in seiner Schullaufbahn benötigt, geschieht über innere und äußere Differenzierung, je nach Fach unterschiedlich. Klassenwiederholungen können einvernehmlich beschlossen werden. Hier das Beispiel für Nordrhein-Westfalen:

§ 28
Besondere Versetzungsbestimmungen für die Gesamtschule

(1) Die Schülerinnen und Schüler gehen ohne Versetzung in die Klassen 6 bis 9 über. Die Klassenkonferenz soll den Verbleib in der bisherigen Klasse empfehlen, wenn die Schülerin oder der Schüler dadurch besser gefördert werden kann. Diese Empfehlung ist mit den Eltern zu beraten. Der Empfehlung der Klassenkonferenz wird entsprochen, sofern die Eltern nicht schriftlich widersprechen.

(2) Eine Schülerin oder ein Schüler wird in die Klasse 10 versetzt, wenn die Bedingungen für die Vergabe des Ersten Schulabschlusses (§ 40 Absatz 3) erfüllt sind.

Ausbildungs- und Prüfungsordnung S I, NRW

Fazit

Versetzung versus Nichtversetzung ist pädagogisch zu diskutieren; aus meiner Sicht ist die einvernehmliche Wiederholung eine angemessene Lösung. Ein „Kollateralgewinn“ der Vermeidung von Nichtversetzungen wäre jedenfalls die Verringerung benötigter Lehrerstellen, die zurzeit von großer Relevanz ist.

Fußnoten

1 Metzger, Wolfgang: Stimmung und Leistung. Die affektiven Grundlagen des Lernerfolgs. Aschendorffsche Verlagsbuchhandlung, Münster 1961
2 Beier, Christine: Macht Sitzenbleiben Sinn?: Mögliche bildungspolitische Konsequenzen aus den Ergebnissen der PISA-Studie. GRIN Verlag, München und Ravensburg 2009
Kern, Artur: Sitzenbleiberelend und Schulreife – Ein psychologisch-pädagogischer Beitrag zu einer inneren Reform der Grundschule. 2. durchges. Aufl., Herder Verlag, Freiburg 1954