In den letzten Tagen fand man in vielen Medien Zitate von Andreas Schleicher, in denen er dem deutschen Bildungswesen Ratschläge erteilte. Die Aufregung über „schlechte“ PISA-Ergebnisse deutscher Schulen lässt sich verlässlich provozieren.
Ziemlich unverschämt war es, Lehrern „Bequemlichkeit“ vorzuwerfen. Selbstverständlich gibt es unter den Lehrern wie in allen anderen Berufen Menschen mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und unterschiedlicher Leistung. Aber pauschale Aussagen dieser Art sind nicht hilfreich. Andreas Schleicher, Bildungsdirektor der PISA-veranstaltenden OECD, macht es sich damit zu einfach. Und wer über schwache Leistungen lamentiert, ebenso.
Wenn Schleicher zum Beispiel darauf hinweist, dass Lehrer klagten, sie hätten keine Zeit, sich mit Kollegen zur Absprache für Arbeiten im Team zu treffen, bleibt er den Beleg schuldig. Im Gegenteil: Es gibt eine lange Tradition der Teamarbeit in deutschen Schulen – in manchen mehr, in anderen weniger.
2018 ging es um das Lesen
Was vermuten Sie, wie deutsche Schüler bei PISA 2018 mit dem Schwerpunkt Lesen abgeschnitten haben?
Hätten Sie gedacht, dass die Ergebnisse so aussehen?
- Deutschland lag mit 498 Punkten signifikant über dem OECD-Durchschnitt von 487 Punkten. Die OECD-Spitzenstaaten sind Estland (523), Kanada (520), Finnland (520), Irland (518) und Korea (514).
- Seit der ersten PISA-Erhebung 2000 war der Kompetenzmittelwert für Deutschland damit um 14 Punkte gestiegen. Im Vergleich zu 2009 (497 Punkte) blieb er ähnlich.
- Auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften lag Deutschland 2018 signifikant über dem OECD-Mittelwert.
(Quelle: Bundesministerium für Bildung und Forschung)
Wohl kaum. Und wenn Sie wissen wollen, was die OECD als „Bildung“ und „Lesen“ versteht, dann schauen Sie sich diese Beispielsaufgabe an:
Das einzige, was die Schüler hier „lösen“ müssen, ist, eine kleine Information im Text zu finden: „Wann begann die Professorin auf dem Blog mit ihrer Feldforschung?“ Die Lösung wird durch die Multiple-Choice-Form noch erleichtert, die schon bei Nicht-Wissen eine Treffer-Wahrscheinlichkeit für die richtige Lösung von 25% ermöglicht.
Auf dem Bildungsserver Berlin-Brandenburg findet man dazu den Hinweis, dass diese Aufgabenform in deutschen Schulen eher unüblich ist. Das kann man wohl sagen! Festzuhalten ist: Wenn ein Schüler hier Fehler macht, liegt es vielleicht gar nicht an seiner Lesefertigkeit, sondern daran, dass er Worte wie „Feldforschung“, „Blog“ oder ähnliche Begriffe nicht kennt. Vielleicht ist er noch nicht lange genug in Deutschland? Vielleicht kommen in seinem Milieu Begriffe wie „Feldforschung“ nicht vor. Im Leser der Tageszeitung, im Zuschauer der Tagesschau entsteht hingegen der Eindruck: Unsere Schülerinnen und Schüler können nicht lesen. In der Test-Theorie würde man sagen: Die Aufgabe, von der es sieben ähnliche hintereinander gibt, ist nicht valide – zumindest nicht im Sinne des unreflektierten Begriffs „Lesen“, wie er in der deutschen Öffentlichkeit benutzt wird.
„Die PISA-Studie hat einen Typ von Aufgaben eingeführt, der in deutschen Schulen eher unüblich ist.
https://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/unterricht/faecher/sprachen/deutsch/Lesen/PISA-Koffer/leseaufgaben.pdf
Nicht nur, dass viele Aufgaben sich auf Sachtexte bezogen, auch die konkrete Ausrichtung auf eindeutige Ergebnisse entspricht nicht der gewohnten Unterrichtssituation.
Natürlich sollte nun nicht der Schluss gezogen werden, dass in Zukunft nur noch PISA-Aufgaben im Unterricht gestellt werden. Das hieße, Situationen der Leistungserhebung mit solchen des Leistungserwerbs gleichzusetzen.“
Selbstverständlich ist es nicht sinnvoll, den Unterricht umzustellen und diese Sorte Aufgaben zu üben. Das würde „teaching for the test“ bedeuten. Und der Test ist nicht das Maß der Schule, erst recht nicht der PISA-Test sondern Bildung ist das Maß der Schule.
2022 ging es um Mathematik
Die letzte PISA-Studie (2022) hatte als Schwerpunkt Mathematik. Auch hierzu eine Beispielaufgabe:
Auch hier sehen wir Aufgaben, die üblicherweise nicht mit unserem Mathematikunterricht in Verbindung gebracht werden. Unabhängig davon, dass die Aufgabenstellung – wie auch beim Lesen – auf sinnvolle Unterrichtsprozesse zielt, ist ein Multiple-Choice-Verfahren für diagnostische Zwecke eher ungeeignet: Es verrät nichts über Lösungswege, richtige oder falsche Lösungsansätze. Die Wahrscheinlichkeit, richtig zu raten, liegt auch hier wieder bei 25%.
Die Mathematik-Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler bei PISA lagen 2022 im OECD-Durchschnitt, damit niedriger als 2018. Eine durchschnittliche Leistung sollte allerdings nicht zu diesem Presse-Echo mit Vokabeln wie „Desaster“, „Katastrophe“ und ähnlichem führen.
Fazit
Die Berichterstattung über PISA-Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler ist übertrieben negativ. Die Leistungen – soweit und so wie sie mit PISA-Methoden gemessen werden – liegen im oder über dem OECD-Durchschnitt. Die PISA-Verantwortlichen einschließlich Andreas Schleicher nutzen Test-Methoden, die in deutschen Schulen untypisch sind.
Gleichwohl ist manche Kritik von Herrn Schleicher am deutschen Schulsystem berechtigt:
– Es bevorzugt Kinder aus einem begüterten Elternhaus.
– Es benachteiligt Kinder aus Familien mit Migrantengeschichte.
– Es versucht Lehrerinnen und Lehrer eng zu steuern.
PISA hat die Aufmerksamkeit aus wirtschaftlichen, nicht aus pädagogischen Gründen auf Mathematik,
Naturwissenschaften und Lesen gerichtet. Bildung und Schulerfolg sind viel mehr: Kultur (Kunst, Musik, Theater, …) und Weltanschauung (Religion, Ethik, Philosophie, …) sind unverzichtbar, auch für Menschen, die sich auf ein Leben in der Wirtschaft vorbereiten, als Konsumenten, als Produzenten, als Arbeitnehmer oder Arbeitgeber.
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